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Von einem Jungen ohne Gefühle

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Von einem Jungen ohne Gefühle
« am: 08 September 2018, 12:58:54 »
Liebe Forumsmitglieder

ich möchte mich bei euch vorstellen. Ich weiß noch nicht ob ich hier länger aktiv bleiben werde. Im Moment möchte ich gerne ein paar Zeilen loswerden, mir von der Seele schreiben. Vielleicht hilft es mir mich in einem offenen Diskurs mit Menschen auszutauschen die mich nicht persönlich, dafür aber meinen Begleiter die Glücksspielsucht, gut kennen.

Ich bin 26 Jahre alt, lebe in der deutschen Hauptstadt, bin Student des Wirtschaftsingenieurwesens im letzten Semester des Masters. Seit meinem 15. Lebensjahr bin ich glücksspielsüchtig. Ich habe in diesen 11 Jahren der Sucht einige Versuche gestartet aufzuhören. Langfristig habe ich es bis jetzt nicht geschafft. Immer wieder gab es Phasen, in welchen ich mich aktiv einige Monate vom Glücksspiel fernhalten konnte, ich denke in den letzten 5 Jahren waren es - Hand aufs Herz - maximal 2 Monate am Stück. Für die meisten Menschen, die nicht zu meiner Familie oder meinem engsten Freundeskreis zählen, würde ich auf den wahrscheinlich keinen kranken Eindruck machen.

Ich möchte die Zeit etwas zurückdrehen. Der Mensch, der damals mit dem Spielen begann unterscheidet sich sehr von dem Mensch der ich heute bin. Ich habe viel über die Welt, und noch mehr über mich selbst gelernt. Vielleicht gehört das zum Erwachsenwerden, aber ich habe das Gefühl, dass es weit darüber hinaus geht.

Als junger Mensch habe ich gewissermaßen keine Gefühle gehabt, wenn ich was fühlte war das schemenhaft und unkonkret, meine Gefühle waren von geringer Intensität und ich konnte sie weder deuten noch konnte ich mit ihnen umgehen. Ich habe mich dann davon überzeugt, dass Gefühle keine Rolle spielen, dass sie einen im Wachstum aufhalten und generell als etwas Schlechtes zu ignorieren seien. Ich wollte reich werden, sah das als meine einzige Chance mich von der Masse der Menschen - die ich so hasste - abzusetzen. Ich empfand mich als Loser, hässlich, nicht besonders intelligent, nicht sportlich, einsam, ohne Charme und ohne Ecken oder Kanten, welche mich definiert hätten. Ich las damals viel, irgendwann hatte ich ein Buch über Finanzen in die Hand bekommen. Das war der Anfang, ich dachte meine Daseinsberechtigung liegt in dem Auftrag viel Geld zu machen. Ohne Erfahrung und Kontrolle stieß ich auf Online-Poker. Paradoxer weise war das für mich als Minderjähriger die einfachste Möglichkeit mein Geld zu vermehren. Ich konnte keinen richtigen Job finden, kein Geld an der Börse anlegen, kein Geschäft aufmachen, nur zocken war kein Problem. So bin ich reingestürzt.

Was kam mit dem Spielen? Damals, und selbst noch vor ein paar Jahren, hätte ich gesagt: Geld. Auch wenn ich anfangs etwas gewann, war das nicht das was mein jugendliches Ich in den Bann zog. Es waren Gefühle. Ich fühlte das erste Mal seit der frühen Kindheit wieder das Kribbeln auf der Haut wenn die Anspannung beim Warten steigt, verlor ich schoss das Blut in den Kopf vor Wut, gewann ich waren die Glücksgefühle das Schönste. Ich kann mich erinnern, dass ich einmal einen ganzen Nachmittag lang ein High erlebte von einem kleinen Gewinn in den Mittagsstunden.

Ich habe sehr lange gebraucht um zu verstehen wieso Glücksspiel für mich so wichtig ist. Und es zu verstehen hat mich sehr verändert. Ich habe begonnen in anderen Bereichen zu fühlen, habe mich auf andere Perspektiven des Lebens eingelassen - es wäre nicht vermessen zu sagen, dass ich angefangen habe ZU LEBEN. Das Leben ist hat keinen Eindeutigen Zweck, wie dem Geld zu verdienen, das ist mir jetzt klar. Der Satz "mach was Dich glücklich mach" hat eine sehr viel tiefere Bedeutung als zu dem Zeitpunkt, zu dem ich ihn das erste Mal hörte. Ich habe aufgehört zu lügen, klare moralische Grenzen gezogen, begonnen mich mit Philosophie zu beschäftigen, mich ehrenamtlich engagiert, die verschiedensten kulturellen Erfahrungen gemacht, neue Freundschaften geschlossen, die Welt der Frauen kennen gelernt. Und ich habe Träume. Manchmal fühle ich mich als würde ich die Jahre die ich verpasst habe jetzt erleben.

All das ist sehr positiv für mich, ich habe es jedoch nicht geschafft das Spielen aufzugeben. Zu sehr ist es mit mir und meinem Dopamin-Zentrum verbunden. Manchmal schaffe ich es und spiele ein paar Monate nicht, zuletzt war das von Ende März bis Anfang Juni dieses Jahres. Es geht mir mit jedem spielfreien Tag etwas besser, ich nehme an Gewicht zu, meine Gesichtsfarbe wird gesünder, ich bin immer mehr mit mir selbst im Reinen. Dann, von heute auf morgen, gibt es einen Tag an dem der Gedanke ans Spielen wieder positiv wird. Ich falle zurück und mit dem ersten Cent, den ich einsetze, ist wieder alles gleichgültig und meine Welt dreht sich nur noch das Spiel. Das geht so lange bis alles was ich in diesem Moment an flüssigen Geldmitteln habe weg ist. Dann kann ich durchatmen und die Denkprozesse kommen zurück.

Ich habe bis jetzt einige Therapien angefangen und immer wieder nach einem Rückfall oder einer Down-Phase abgebrochen. Ich war in zwei Selbsthilfegruppen, habe eine ambulante Therapie an der Charité und eine ambulante Therapie bei der Caritas gemacht. Eine stationäre Therapie habe ich bis jetzt nicht gemacht. Immer überwog das Gefühl erst noch xyz fertig machen zu müssen und nicht alles stehen und liegen lassen zu können. Ich habe das Gefühl, dass mir die typischen und klassischen Therapieangebote kaum mehr helfen konnten als Freunde, Familie, Bücher oder Texte. Vielleicht habe ich aber auch einfach nicht die passende gefunden.

Ich habe mich schon oft gefragt, ob das Leben lebenswert ist. Ich weiß das ist es, aber ein Leben mit Glücksspielsucht, oder irgendeiner anderen Sucht was das betrifft, ist teilweise so anstrengend und hat derartige Abgründe, dass ich denke sich diese Frage stellt sich jeder Betroffene früher oder später.

Ich stehe, wie ich anfangs gesagt habe kurz vor meinem Abschluss. Sehr wahrscheinlich werde ich keine Probleme dabei haben einen Job zu finden, doch in mir sträubt sich alles weiterzumachen wie bisher. Geld hat für mich einen sehr negativen Beigeschmack. Vielleicht werde ich auch verrückt, aber ich will kein Teil des Rads mehr sein.

Ich freue mich über eure Gedanken und über jeden der sich die Zeit genommen hat meinen Beitrag zu lesen.

Viel Erfolg!
« Letzte Änderung: 08 September 2018, 13:08:16 von AleksejIwanowitsch »

 

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