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Tagebuch Rubbel

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Offline Rubbel

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Re: Tagebuch Rubbel
« Antwort #30 am: 24 Juni 2023, 19:51:19 »
Ganz großen Dank Dir, Freitagessen!
Ich wünsche Dir auch alles Gute und Liebe - und vielleicht lernen wir uns Ende d.J. ja mal face-to-face kennen?! ... mit Olli und evtl. noch anderen Usern. Das würde mich freuen!

Viele Grüße R
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Re: Tagebuch Rubbel
« Antwort #31 am: 01 Juli 2023, 11:01:57 »
Wohltätigkeitshaus, 1. Episode

Die Vorbereitungen liegen schon hinter mir: Einweisung vom Facharzt abgegeben, Blutabnahme, EKG, Anästhesie, Vorgespräch … nun geht’s los.
Um 5.00 Uhr das Haus verlassen, Öffis genutzt.
Rucksack auf den Schultern, den Koffer hinter mir herziehend, komme ich pünktlich an in der sechsten Etage. Es ist kurz vor 6.00 Uhr.
Station Neunzehn, Schwester A:
‚Wie heißen Sie noch mal? Moment, da muss ich mal gucken. Hmm, ich habe Sie hier gar nicht …. Aaa-ja! Ein Zimmer haben wir noch nicht für Sie, ich verwahre dann noch Ihre persönlichen Sachen, das ist dann das letzte, was ich heute im Nachdienst mache. Meine Kollegin aus der Frühschicht kümmert sich um Sie, wenn Sie aus dem OP kommen. Hier das OP-Hemd, für Ihre Kleidung haben wir hier eine Mülltüte so lange. Sie ziehen sich dann hier aus.‘ A schiebt ein Bett in den Abstellraum und stellt eine spanische Wand auf. ‚Hier muss alles immer steril bleiben‘, sagt sie, und ich tue, wie mir geheißen … steril? Sieht gar nicht so aus, denke ich. Kaum, dass ich brav auf dem Bett liege, kommt der Lieferant der beiden Frühstücks-Sammelcontainer, er schiebt sie direkt zum Fußende meines Bettes. ‚Mooorgen‘ … ‚Hi‘. Hi? Warum bin ich noch so cool? Achja, ich krieg‘ ja gleich eh eine kleine Dosis ‚Egal-Tablette‘, ein Glück.
Die Schwester hetzt zu uns. Es ist nichts Absonderliches, es ist nur wegen meiner Akte, die sie kommentarlos unter mein Kissen schiebt. Wie freundlich, mannomann, die muss ja angekotzt sein von ihrem Job … und ich wende mich an sie, bevor sie gänzlich weg ist: ‚Wann bin ich denn dran? Können Sie das evtl. abschätzen? Ich frage, weil der Anästhesist aufgeschrieben hat, dass ich eine ‚Egal-Tablette‘ bekommen kann. Die hätte ich dann gerne.‘
Mit strengem Blick und einem heftigen Ruck zieht sie meine Akte unter meinem Kopf wieder hervor und blättert … 5? 7 Seiten? Mehr gibt’s noch nicht in der Akte.
‚Nee-nee, davon steht nichts in der Akte.‘ So landet diese wieder unter meinem linken Ohr. A. ist wieder weg, der Lieferant sowieso.
Ich krame meine Krankenakte hervor, blättere, lese: Prämedikation: 3 mg XY. So was hat immer wieder das Zeug, mich müde und schläfrig zu machen, sobald mein Anflug von Gedanken wie: ‚wie kann man so blöd sein, die paar Seiten, ich hab’s sofort gesehen. Booaah‘ – ich fasse es nicht!‘ abgeklungen ist. Irgendwann – vielleicht nach 40 Minuten – kommt ein Pfleger. Er gibt mir ein hellblaues, federleichtes Häubchen, mit dem ich die Haare abdecken soll. Es quietscht und knackt, während er per Fußauftritt die Bremse des Bettes löst und mich in Richtung Aufzug schiebt … fahren wir hoch oder runter? Runter wohl … der Weg in den OP scheint verschlungen und ganz schön weit.
Diese Patientenlieferanten sind alle grün gekleidet, tragen Mundschutz, viele auch ein leicht-luftiges hellblau-transparentes Haarhäubchen – wie meins. Ich bin schon überfordert mit meinen Eindrücken. Dann schaltet sich mein Kopf aus bzw. auf niedrigschwellige Wahrnehmung … nur das Wichtigste, Gröbste.
Bis zur Anästhesie werde ich sicher dreimal gefragt, wer ich bin, was gemacht wird … ‚das ist zum Schutz, damit wir Sie nicht verwechseln‘ … sagt ein weiterer Grüner. Verwechseln … welch ein Gedanke …
Die Anästhesisten in dem kleinen Raum sind gut drauf und scherzen mit mir, legen auf beiden Seiten Zugänge … und mit der Zeit laufen mir die Tränen. Scheiße! Warum habe ich die Tablette nicht bekommen …
Irgendwann dann die Sauerstoffmaske. Dann bin ich ‚weg‘. Eine Zeit, die es für mich gar nicht gibt, beginnt. Sie endet im Aufwachraum mit einigen anderen frisch Operierten. Es ist kurz vor 10 Uhr! Erst kurz nach 11.30 kann ich auf die Station geschoben werden. Eine zu flache Atmung hat vorher die angeschlossenen Geräte immer piepsen lassen. Ich bekomme ein Atemübungsgerät und Sauerstoff. Und das Bett am Fenster, denn die Mitpatientin ist noch im OP.
Einer meiner Ex-Freunde ist hier. Er liegt in der 3., ich in der 6. Etage. Er hatte einen Unfall: Voll besoffen ist er die Treppe hinuntergefallen und sein rechtes Hüftgelenk ist kaputt. Das ist schon vor einem Dreivierteljahr passiert. Die ersten beiden OPs für den Einsatz eines künstlichen Hüftgelenks waren erfolglos wegen Entzündungen, die mussten wieder raus, hier erfolgt der 3. Versuch. Ich hatte ihn schon mal besucht vor wohl 3 Monaten. Früher war er mal ein total Attraktiver, nun sieht er um 20 Jahre älter aus als er ist. Vom Leben gezeichnet. Vom Alkohol auch etwas langsam im Denken – oder hab‘ ich früher was nicht gecheckt?

… Ende Teil 1 …
« Letzte Änderung: 01 Juli 2023, 11:13:47 von Rubbel »
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Re: Tagebuch Rubbel
« Antwort #32 am: 02 Juli 2023, 18:12:00 »
Ich taste mein Gesicht ab, fühle die Pflaster, und traue mich nicht an einen Spiegel. Hunger hab ich, Hunger und Durst. Die Frühschicht ist nett! Sie informiert die Essensausgabe, die noch netter ist, ans Bett kommt, sagt, was sie alles hat, fragt, was ich alles möchte! Herrlich! Apfelsaft – vegetarisches Essen vom Mittag! Ich bin sehr zufrieden, schlafe in Etappen noch mehrmals ein, bis ich dringend eine rauchen will. Aufstehen geht wie geschmiert. Eine Sekunde vor dem Spiegel … krass … Zigaretten steck ich in den Ärmel und gehe raus.
Unten im Hof, wo auch das Personal ungehemmt raucht, sehe ich ihn im Rollstuhl sitzen. Damals war er Sozialarbeiter, ohne Freude am Beruf. Eher ein Aussteiger, gesellschaftlich. Wir haben uns in der Disco kennengelernt, es war total romantisch: Ich hatte ihm auf ein Tempo-Taschentuch meine Tel.-Nr. geschrieben, er steckte das Tuch in seine Tasche, und zu Hause war es schon aufgeweicht in der engen Jeans. Er hatte nicht mehr alle Ziffern lesen können und alle möglichen Kombinationen ausprobiert und mich irgendwann erreicht. Daraus entwickelte sich letztendlich eine ‚Freundschaft Plus‘ über mehr als 10 Jahre. Danach große Pause, über sicher 15 Jahre, bis vor kurzem. Irgendwie freue ich mich.
 
‚Och, sieht doch gar nicht so schlimm aus‘, sagt er charmant lächelnd, und ‚das wird schon‘ – und erzählt mir von seinen Neuigkeiten. Ich fühle mich gut abgelenkt derweil. Ich muss gut hingucken, um das Bekannte und Vertraute in seinem Gesicht wiederzufinden – dabei ist er 2 Jahre jünger als ich. Ich versorge ihn mit Zigaretten und bin froh, hier überhaupt jemanden zu kennen.

Ja, er war damals oft bei mir, und weil ich zu der Zeit noch viele Feten zu Hause hatte und immer Alkohol-Reste auf dem Balkon lagerten, war auch immer was für ihn da. Manchmal kam er auch schon angetrunken, auch ohne Voranmeldung. Er spielte Gitarre und sang, hatte seine eigene Band.
Er war melancholisch, aber auch witzig, beides.
Spielsucht und Alkoholismus. Mein Ex-Mann hat beides ‚abgedeckt‘. In der Rückschau waren eigentlich alle auf ihre Weise süchtig. Nicht für ein ‚High‘, sondern zum ‚Funktionieren‘. Vielleicht war das die Zeit, die 90er Jahre. Wirtschaftlich war alles gut so weit, Arbeitslosengeld gab’s noch lange … nicht wie heutzutage, von Hartz oder Bürgergeld keine Spur. Eine Zeit sich amüsieren zu können. Zeiten der Unbekümmertheit.

Wir sprechen über die Sucht, die Süchte, und ich erzähle ihm, dass ich jetzt fast 4 Jahre wieder spielfrei bin. ‚Ach – doch so lange hast Du noch gezockt?‘ – ‚Ja, so lange noch. Immer wieder, in Schüben‘ und erzähle ihm alles, auch von der Betreuung für die Finanzen, vom Gerichtsvollzieher … alles, und er staunt. Zuletzt frage ich ihn: ‚Jetzt, nachdem Du das erlebt hast und schon über 9 Monate im Rollstuhl sitzt … würdest Du noch mal Alkohol trinken?‘
‚Oooaaach jaaa – so ein, zwei Bierchen würde ich schon gerne ab und zu trinken.‘ Die Ehrlichkeit ehrt mich, aber ich weiß: Eine Verbindung, ähnlich wie früher, werden wir nicht mehr haben, auch nicht rein freundschaftlich. Weil ich das nicht verstehe, nicht verstehe, dass ein Mensch, der durch die Hölle gegangen ist und die Möglichkeit hat, ‚nur‘ darauf zurück zu sehen, immer noch blauäugig und zuversichtlich weitermachen kann und  will mit Dingen, die ihm so sehr schaden. Nett und lieb ist er dennoch, nur niemand, der mich irgendwie ‚weiterbringt‘, neue Lebensansichten mit mir teilt. Auf dem Rückweg schiebe ich ihn im Rollstuhl bis in sein Zimmer und an sein Bett, dann fahre ich zur Station 19.

Zurück auf meinem Zimmer ist meine Bettnachbarin da. Eine türkische Frau, sehr nett, sie lächelt viel. Wir unterhalten uns schnell locker und freundschaftlich. Später telefoniert sie und bekommt ganz schnell darauf Familienbesuch. Mit sehr, sehr viel Essen! Massen an Essen! Fleisch! Auch für mich. Das ist nicht gut. Ich kann Fleisch nicht riechen. Es ist schwer und tut mir leid, es abzulehnen, und ich hoffe, niemand nimmt mir das übel.
Bald darauf kommt meine Ärztin zur Visite. ‚Wir haben jetzt das Gewebe in der Histologie, die Auswertung dauert ca. 1 Woche, in 2 Tagen können Sie erst mal nach Hause. Wir rufen Sie an, wenn das Ergebnis da ist.'
Ich hoffe, das geht gut aus und dass die mich nicht zum Zombie machen.
« Letzte Änderung: 02 Juli 2023, 18:19:05 von Rubbel »
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Re: Tagebuch Rubbel
« Antwort #33 am: 03 Juli 2023, 12:25:49 »
Ich geh noch mal runter … spazieren (hier sind ja alle irgendwie lädiert), hole mir an einem Stand einen vernünftigen Kaffee, weil der auf Station Plörre ist, und denke nach. Es muss ja nicht sein, dass die noch Reste finden, kann ja auch sein, dass alles raus ist und gut. Nicht an den worst case denken – bringt ja nichts und ist vertane Zeit: Vielleicht mach‘ ich mich ‚umsonst‘ verrückt, ich muss jedenfalls erst dann damit umgehen, wenn ich informiert werde. Also rauche ich noch eine, telefoniere, schreibe meiner Tochter 'ne WhattsApp: ‚alles gut verlaufen, Ergebnisse kommen noch. Kann übermorgen schon wieder raus. Erzähl mal, was Du so machst?! Wie war die erste Feier? Hattest Du das blaue oder das grüne Kleid an? Bussi.‘
Nachdem sich der Nachtdienst gezeigt hat, dauert es nicht lange – und ich schlafe friedlich. Wird schon alles. Meine Bettnachbarin sagt am Morgen: ‚Er ist Araber, hab ich gesehen (sie sagt das mit den Zeigefingern Richtung Augen), und ich höre das auch (ihr Finger am Ohr verdeutlicht das Gesagte). Duschen, Frühstücken, rausgehen, 1 Schachtel Zigaretten nur für den Ex – dann hab ich meine Ruhe im Hof. Stöpsel mir Musik in die Ohren und lass‘ es mir gut gehen bis mittags. Kaum im Zimmer, kommt wieder die Familie meiner Zimmergenossin, diesmal mit ganz viel Fleischlosem, und das ist nun für mich, und mein Essen wird unter freundlichem Nicken beobachtet – ein Ayram ist auch dabei. Ayram hatte ich vorher noch nie getrunken. Insgesamt fühle ich mich gemästet. Total lieb sind die alle. Die Frau von der Essensausgabe kommt rein, sagt: ‚Oh, Sie haben schon, na, dann nehm‘ ich das Essen wieder mit. Guten Appetit wünsche ich Ihnen!‘  Ich geh bald wieder raus, rauchen, es wird mir zu eng.
Morgen geh‘ ich heim, und das ist gut so. Vorher sag‘ ich zu den Schwestern: ‚Ich müsste dann morgen den vorläufigen Arztbrief, vor allem die Laborwerte, mitnehmen – für den Hausarzt.‘
Es ist Donnerstag. Die Nacht war entspannt. Wir beide sitzen auf unseren Betten, haben gefrühstückt, geredet, gelacht, warten auf unsere Entlassung. Meine neue Bekannte bietet mir an – nein, kündigt an, dass ihre Familie mich selbstverständlich mit dem Auto nach Hause fährt. Ich tue, als hätte ich sie nicht verstanden, lächle sie an. Das ist so nett, dass ich es vermeiden werde, und außerdem will ich hier schnellstens raus. Der Arztbrief? – Noch nicht fertig. Warum auch? Ich bin unruhig und genervt – gehe raus, rauchen. I-r-g-e-n-d-w-a-n-n kann ich einen Brief mitnehmen, stürze ins Zimmer, meine Nachbarin und ich drücken uns, und ich sage: ‚Ich muss sofort los. Alles Liebe Dir und natürlich auch Deiner Familie! Schön, dass wir uns kennen gelernt haben. Du bist ein Schatz! Vielleicht sehen wir uns mal wieder …‘. Raus bin ich. In der U-Bahn fragt ein Typ: ‚Operation gehabt, was?‘ und deutet auf mein Gesicht.

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Re: Tagebuch Rubbel
« Antwort #34 am: 04 Juli 2023, 00:27:12 »
Zuhause alles okay, ich bestelle Lebensmittel für die nächsten Tage, wasche, bügle, sowas. Freitag die Email vom Krankenhaus: Mo wieder dasselbe Prozedere: alle Voruntersuchungen, alle Unterlagen mitbringen, um 8.00 Uhr da sein. (Kein Anruf wegen der Histologie.) Ich hole die neue Einweisung vom Hautarzt. Wird dann wohl seine Richtigkeit haben. Eine Woche ist ja noch nicht rum. Geschlagene 5 Stunden muss ich für das alles wieder einrechnen.
 Ich nehm‘ mir am Montagmorgen schnell Bananen mit, bin pünktlich um 8.00 Uhr vor Ort. Nachdem ich alles im Management wieder abgegeben habe und gut 4 Stunden verstrichen sind, sagt mir die Frau vom Patientenmanagement: ‚Bitte nehmen Sie noch Platz, die Oberärztin möchte noch mit Ihnen sprechen. Sie müssen nicht lange warten, ich sag‘ ihr, dass Sie da sind!‘ Vorbesprechung – das ist schön, weiß ich doch danach, wie die mich nun zusammenflicken.

‚Ja, Hallo, setzen Sie sich doch! Wir haben das Ergebnis aus der Histologie bereits! Es muss nachgeschnitten werden rechts, wir machen das morgen früh. Sie wissen ja, es ist gut, dass Sie gekommen sind. Das Wichtigste ist, dass wir alles rausbekommen. Das wächst sonst nur nach und breitet sich weiter aus, wenn wir nicht exakt arbeiten, und das kann Sie ihre Nase und auch Ihr Auge kosten; das wollen wir ja nicht. Ihre kosmetischen Wünsche müssen jetzt erst mal in den Hintergrund treten, tut mir leid. Morgen um 6.00 Uhr melden Sie sich wieder auf Station 19, bitte. Sie sind die 2. auf der OP-Liste. Wir tun alles, um das Ergebnis so gut wie möglich …‘.

Pfff … und meine Tränen lassen sich nicht unterdrücken. So eine Hiobsbotschaft! Nase … Auge verlieren? WHAT? Wir verabschieden uns, verbleiben so.
Okay, ich muss da jetzt also durch. Ein Zurück geht ja nicht. Abbrechen ist auch keine Lösung. Erst mal schnell raus aus diesem Haus. Ich gucke nach dem ‚Ex‘, klar sitzt er da mit Zigarette. Ich geh hin, er freut sich: ‚Ach, kommst Du echt schon wieder? Wie schön! Hast Du noch Zigaretten? Das war meine letzte. Ich muss übrigens wieder ins Pflegeheim, die 3. OP am Freitag ging wieder daneben. Nun muss ich mindestens 6 Monate warten bis zum nächsten Versuch. Irgendwann gegen Ende der Woche werde ich abgeholt und komme erst mal wieder in dieses kack Pflegeheim zu den Bekloppten!‘

‚Oh, Mist, das tut mir wirklich leid. 6 Monate – das ist lange. Ich werde morgen das 2. Mal operiert.‘ ‚Ach, das ist wirklich nicht schlimm mit Deiner Nase …‘

Ich bin so gereizt, völlig angespannt!
Da sitzt noch ein Junge, also ein junger Mann -  mit verbundenen Unterarmen. Er bekommt die Situation mit und sagt zu meinem Ex: ‚Wenn ich mich nicht täusche, fliegt Dir gleich ne Handtasche ins Gesicht!‘ – wie Recht er hat! ‚Wir sehen uns noch, bevor Du ins Heim gehst.‘ ‚Ach komm, meine Liebe, lass‘ uns mal drücken, haben wir noch gar nicht gemacht. Wir bleiben doch Freunde, oder? Das mit der Nase, das wird schon. Sieht echt gar nicht schlimm aus!‘
‚Na, sage ich, gucken wir mal, was die Zeit bringt‘ – ich beuge mich runter zur freundschaftlichen Umarmung, gebe ihm noch ein paar Zigaretten und sage, dass ich dann erst mal nach Hause muss. Packen und so. Er ist verunsichert, sagt, er muss wieder hoch zur Antibiose … und rollert davon.

Ich lächle den Jungen an und sage: ‚Gut erkannt! Ich kann’s wirklich nicht mehr hören, immer dasselbe: Och, wird schon und so. Was hast DU denn eigentlich gemacht, dass Deine Arme beide verbunden sind? Sind die gebrochen? Oder hattest Du einen Unfall? Was ist Dir passiert?‘
‚Nee-nee, was ganz anderes: Eigentlich hat alles angefangen mit meiner Zahnspange, ich hatte solche Schmerzen, und nichts hat geholfen. Ich hab mir dann ‚Legal Highs‘ aus Holland geholt, die sollten helfen. Hast Du schon mal gehört von ‚Badesalz‘? Na, jedenfalls hab ich das gespritzt, und mit der Zeit ist die Haut ganz schwarz geworden, abgestorben. Nekrosen, haben die hier gesagt. Die haben das jetzt aufgeschnitten.‘ Er zeigt mir Fotos auf seinem Smartphone. Ich sehe pechschwarze Unterarme, auf dem anderen Foto sehe ich die Unterarme aufgeschnitten. ‚Die nehmen jetzt Haut von den Oberschenkeln zum Abdecken‘, sagt er.
Ich bin schockiert! Richtig platt. Er sagt, er ist 19. 19 Jahre alt und so was. Wie furchtbar. Ich hatte schon mal von solchem Zeug gelesen, aber jemanden, der das benutzt hat, hab ich noch nie kennen gelernt. Ich streichle seine Hand. ‚Mann, das tut mir voll leid! Du musst die anzeigen! Das ist absolut verantwortungslos, so was zu verkaufen.‘ ‚Keine Chance‘, sagt er – das geht gar nicht zurückzuvollziehen, wer da verantwortlich ist, und ich hab mir das ja kurz hinter der holländischen Grenze selbst abgeholt … wegen Zoll und so, weißte?‘ ‚Verstehe‘, sage ich. ‚Puh! Wissen Deine Eltern, dass Du hier bist? Oder sonst jemand? Hast Du eine Freundin – jemanden, der Dich besucht? Du bist ja bestimmt länger hier damit, das ist ja keine Bagatelle.‘

‚Mein Freund weiß das, er hat das dann auch genommen und sieht genauso aus, auch alles schwarz. Er wohnt in Köln und ist mitten im Umzug. Ich bin schwul, weißte, und eigentlich hab ich auch noch einen hier, das heißt, wir waren mal zusammen und ich weiß nicht, wen ich will. Mein Freund in Köln, mit dem läuft das nicht mehr so, das war so schön mit ihm, aber jetzt … Hast Du schon mal von „Puppy Love“ gehört?‘ ‚Nö‘, sage ich, ‚keine Ahnung … was ist das? Ist er so viel älter als Du?‘
‚Nee … warte, zeig ich Dir‘ … und ich gucke wieder auf den Screen. Ich sehe verkleidete Männer, sie tragen Latexklamotten und Masken, die wie Hundegesichter aussehen, haben auch teilweise Leinen, Geschirr um den Hals. ‚Das ist Puppy Love, wir sind eine Community, und es gibt die Puppies, also die Welpen, und die Halter, also so ganz oberflächlich erklärt. Puppy Love gehört zur BDSM-Szene.‘
Ich nicke – ‚ach so … nee, hab ich noch nie was von gehört‘ … er hat es drauf, mich völlig von dem Schock von vorhin abzulenken. So erzählt er mir noch mehr und dass es sein zweites Ich sei und überhaupt so viel und alles, wovon ich noch niemals im Leben auch nur ansatzweise was gehört hätte. 19 Jahre, BDSM, Puppy Love – ist die Welt noch zu retten? Ich fühle mich alt bei dem Gedanken, aber ich gebe vor mir selbst zu: Ich finde es schrecklich. Ich mag schwule Männer total gerne und hab schon viele kennengelernt, mit einem geh ich alle paar Wochen Essen und Quatschen, ein guter Freund – aber ich glaube nicht, dass jemand von meinen Bekannten je aus einem Napf gegessen hat oder etwas, was ihm vom Esstisch auf den Boden geworfen wurde.
Und dabei mag ich diesen Tim, wie er heißt, er ist voll niedlich, irgendwie trotz allem arglos, herzlich in seiner offenen Art, und er weint, weil sein ‚Welpe‘ ihn nicht mehr so tief innerlich, herzlich, berührt wie am Anfang.
Aber jetzt muss ich wirklich nach Hause, schließlich ist morgen die 2. Operation. Wir verabschieden uns … wissen, wir sehen uns wieder, denn er liegt auf?? Station 19!
« Letzte Änderung: 04 Juli 2023, 10:46:05 von Rubbel »
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Offline Rubbel

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Re: Tagebuch Rubbel
« Antwort #35 am: 04 Juli 2023, 14:55:33 »
Diesmal werde ich nicht angequatscht in der Bahn – und am Freitag kommt meine Tochter zurück. Bestimmt strahlt sie ganz entspannt. Fast 5 Wochen war sie weg, und ich sehe schon ihre großen, schönen blauen Augen vor mir … das baut mich auf. Sie wird definitiv nach der 2. OP da sein und mir viel erzählen können. Rauchen sollte ich sehr viel weniger dann zu Hause, sie kann das gar nicht leiden. Ich freue mich, dass sie ihr Leben genießt, einen gut dotieren Job und eine ganze Menge Bekannter und/oder Freunde hat und in dieser Firma jetzt sogar von Kroatien aus arbeiten konnte. Sogar ein Deutschlandticket wird demnächst von ihrem Arbeitgeber bezahlt für alle Angestellten. Jung, dynamisch – sie passt prima da hinein.

Mein kleiner Koffer und der Rucksack sind schnell gepackt. Ich bin unruhig, gucke ins Spielsuchtforum, schreibe was, telefoniere, erzähle und finde kein Ende. Schlafen kann ich nicht wirklich, stehe um 4.20 Uhr auf. In mir sträubt sich alles. Ich esse einfach eine halbe Banane, das geht ja wohl, ich glaub, 20 Minuten, dann ist die verdaut. Muss ich ja nicht sagen nachher, und trinke schwarzen Kaffee, der mir gar nicht schmeckt, aber mit Milch bin ich dann doch vorsichtig. Ich will nicht ‚gehorchen‘, ich will eigentlich, dass ich aufwache aus diesem Alptraum.

Um kurz vor 6.00 Uhr bin ich wieder zur Stelle auf Station 19. Auf dem Weg habe ich ‚gedampft‘ – ist ja wohl auch nicht so wild! Schwester ‚B‘ ist fitter als ‚A‘. Ich bekomme auch die Egal-Tablette, auch ein Zimmer hab ich schon: kein Müllsack für meine Kleidung also. Wieder das Bett am Fenster, gleicher Grund: Noch ist die Zweitbesetzung des Zimmers nicht da. Ein kleiner Luxus – ich nehme ihn an. Alles sonst läuft wie beim ersten Mal, außer dass die Anästhesie nicht so witzig ist. Außerdem bin ich nun die Erste auf der OP-Liste, die eigentliche Nummer 1 ist nicht operationsfähig.
Ab der Sauerstoffmaske bin ich schnell wieder weg. Die LmaA-Tablette hat mich etwas gedämpft, aber sooo egal war mir davon nichts. Die grünen Männchen nicht, die blauen von der Anästhesie auch nicht. Ich komme schneller auf die Station als vorher, die Atmung ist besser: Kein Atemübungsgerät, kein Sauerstoff. Alles gut. Als ich aufwache, bin ich nicht so fitt wie beim ersten Mal, eher kreislaufschwach … ich nehme mir die Zeit, schlafe immer wieder, esse irgendwann, schlafe … so vergeht die Zeit auch.

Wohl Stunden später geht die Tür auf, und ein neues Bett samt Patientin wird ins Zimmer und neben mein Bett geschoben. Sie ist noch schläfrig und stellt einen zu einem Drittel gefüllten Urinbecher auf die Nachttischablage. Nein, kein Urin ist darin, sondern so was wie dunkelgrauer Schotter und ein größerer Kieselstein. Später erzählt sie mir, dass sie Gallensteine hatte. Sie hatte unaushaltbare Schmerzen, und niemand hat die Steine gesehen, auch im Bundeswehrkrankenhaus nicht … bis zum MRT, und dann war sie schon Notfall, weil sie quittegelb war, die Augen, die Haut … und nicht mehr laufen konnte. (achja – meine Leber … die zweite Baustelle! Hiernach muss ich zum Hausarzt, auf jeden Fall.)

Wir sind sofort auf einer Wellenlänge, sofort. Sie ist Griechin, 40 Jahre alt, eine ganz rebellische, kennt sich super in der aktuellen Szene aus, hat schon mehrere Clubs mitgeplant, war Teilhaberin und hat auch gekellnert. Mitten aus dem Leben also. Ein Geschenk! Leider kommt sie vor Schmerzen kaum aus dem Bett in den Stand – ich aber so langsam. Ich geh raus in den Hof, freue mich über ‚meine Neue‘.
Als ich wieder hochfahre, steht vor mir im Fahrstuhl ein großer, breiter Mann. Er trägt ein dunkelblaues T-Shirt, auf dem hinten steht:‘Sport mit Herz, nicht mit Kommerz‘. Verblüfft denke ich ans Spielsuchtforum, an die wettsüchtigen Menschen, an meine eigene Spielsucht, die hoffentlich nie wieder in Aktion tritt. Wüsste ich nicht jeden Moment, wo ich bin, wäre fast alles ‚normal‘.

6. Etage, ich geh durch die Glastür auf die ‚19‘. Jemand ruft meinen Namen, freut sich wie ein Kullerkeks und rennt mir mit aufgerissenen Armen entgegen: Tim! Er sagt mir voller Stolz, dass die OP nun vorbei ist, zieht mitten im Flur seine Jogginghose runter und zeigt mir seine Oberschenkel. Sie sind sehr rot und die Haut sehr schuppig – war ja auch das Transplantat für seine auch jetzt wieder dick eingepackten Unterarme. Eine Schwester sieht das, guckt kurz wie paralysiert, schüttelt den Kopf: ‚tse-tse-tse‘. Ich freue mich für ihn und – dann fällt mir ein: Ich hab noch nicht mal mein Gesicht abgetastet oder in den Spiegel geguckt. ‚Wir seh’n uns‘ verabreden wir, und ich geh‘ auf mein Zimmer. Meine ‚Neue‘ schläft. Ich steck mir Kopfhörer ins Ohr höre ‚Disturbed‘ – ‚Metallica‘ – ‚Alice Cooper‘ – ‚Lenny Kravitz‘ und auch was zum Lachen: ‚Böse‘ von ‚Knorkator‘. Passt alles. Abgetastet habe ich die Nase, das tut allerdings weh – gucken kann ich später noch.

Nachdem meiner Bettnachbarin keine Schmerztablette und kein Tee und nichts geholfen hat und sie schon in eine Mülltüte erbrochen hat, richtet sie sich doch peu à peu auf – wir sprechen über eigentlich alles, tauschen Telefonnummern und sagen uns: ‚Wenn wir wieder gesund sind, müssen wir uns unbedingt treffen!‘

Der Blick in den Spiegel: Naja, dick verpflastert eben, war ja eigentlich auch nicht anders zu erwarten. Am Mittwochvormittag ist große Visite für mich, und ich höre: ‚Sie können morgen wieder gehen, es war ja nicht viel, was wir reseziert haben, und das ist jetzt wieder in der Histologie. Wir haben schon nach einem möglichen neuen Termin geguckt: Ist Ihnen nächste Woche Freitag recht? Das würde gut passen. Mittwoch, 05.07. ist dann erneute Vorbereitung in der Ambulanz um 8.00 Uhr, Sie wissen ja, Labor, EKG, Anästhesie. Freitag 07.07. wieder um 6.00 Uhr auf der Station.‘
Ich bekomme duschfeste Pflaster aufgeklebt, die sind leider ziemlich transparent, so dass ich fast alles sehe da hindurch. Die nachgeschnittene Seite blutet nach und … ach, egal. Es geht nur um eins: Die zweite Etappe ist genommen.

Große Verabschiedung im Zimmer am Tag darauf. Tim liegt auf seinem Bett und dämmert vor sich hin. Ich streichle sein Gesicht und sage: ‚Ich gehe wieder, schlaf Dich gesund.‘
Und dann raus, raus hier, bloß raus, nach Hause! Der Arztbrief ist fertig! Nanu? Sehr gut!
-----------------
Mittwoch, also heute, ist die Vorbereitung erledigt, und ich auch. Purer Stress.

« Letzte Änderung: 05 Juli 2023, 13:40:52 von Rubbel »
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Re: Tagebuch Rubbel
« Antwort #36 am: 12 Juli 2023, 22:28:01 »
Irgendwie wollte ich schon, kam aber nicht dazu, also dir zu antworten liebe Rubel.

Dann erst mal das wichtige und dann das wesentliche.
Eine Einladung nach Berlin habe ich bekommen und ja, ich würde mich auch freuen dich dort kennenzulernen.
Zu dem wesentlichen, wie geht es dir gesundheitlich?

Und übrigens, deine letzten Beiträge (ab Episode 1) manche habe ich auch öfters durchgelesen ... na gut ich glaube ALLE mindestens 2 x  ;D - fand ich echt richtig richtig gut geschrieben..
Mir gefiel besonders deine mehrfache Erwähnung von den Plus Knabe ... "köstlich"   aber alles andere natürlich auch ;D

Bis dahin ... Mann liest dich

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Offline Rubbel

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Re: Tagebuch Rubbel
« Antwort #37 am: 13 Juli 2023, 19:01:28 »
Liebe(s)r Freitagessen :)
Vielen lieben Dank für Deine Nachricht!
1. Ja, klasse! Ich freue mich voll :)
2. Momentan geht's mir gut, und ich hoffe, auch die nächste Woche wird angenehm soweit.

Und übrigens: Danke! Das freut mich natürlich total!!
Ganz viele Grüße!
R

Einen ausschleichenden Schlusstext häng' ich dennoch an.
--Meist ist Geist geil--

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Offline Rubbel

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Re: Tagebuch Rubbel
« Antwort #38 am: 13 Juli 2023, 19:16:09 »
Episode 4 = Epilog:

In der Nacht zum 6. Juli 2023 tauche ich meinen Kopf mehrfach tief in die Kloschüssel ein – und mir ist klar: Das ist Stress! Jetzt hab‘ ich wieder alle Vorkehrungen dafür unternommen, den Stress der 3. OP zu gewährleisten, fortzuführen ... emotional gesehen wider Willen. Natürlich weiß ich, dass diese dritte Operation nötig ist und es keine andere Option gibt – also vielleicht nicht wirklich Stress, eher dieses Dilemma.

Den Donnerstag über mache ich von Nichts bis Blödsinn, weil ich irgendwie kraftlos bin, mental, psychisch, körperlich hangle ich mich bis nachts durch, schlafe zirka 3 Stunden, und:

‚Los geht’s!, und diesmal auch wieder mit verbotener Banane am Freitagmorgen und schwarzem Kaffee - und Pfefferminz und ½ Zigarette zum morgendlichen Frühstück und dem ‚Dampfgerät‘ auf den jeweiligen Fußwegen zum Gebäude der Barmherzigkeit in den 6. Stock auf die Station 19.
Aber: Die Station 19 ist voll, ich muss auf die 18.

Also in meinem Kopf ist das die ‚falsche‘ Station, und Schwester C? … Schwester ‚A‘ ist Schwester ‚C‘, und sie führt mich ins Patientenzimmer 13. Ich bin nicht abergläubisch, und doch fühlt sich das weniger, ganz wenig ‚gut‘ an.
A/C: ‚Ach, Frau X, das ist ja wie ein ‚Déjà-vu‘. ‚Ja‘, lächle ich matt. ‚Na, Sie wissen ja, wie’s läuft: Ihre Sachen für den OP sind hier … wir sehen uns nachher.
‚Moment! Ich hätte gerne meine Beruhigungstablette, ich weiß, der Anästhesist hat sie aufgeschrieben!‘ Aufgeregtes Blättern in der Akte, die Blicke sind Pfeile.
‚Ja, Frau X, aber dafür haben wir gar keine Zeit. Dann muss jemand Sie begleiten, und ich kann keine Kollegin dafür abstellen!‘ Raus ist sie. Und kommt auch nicht wieder … und ein Mann im weißen Poloshirt und dunkler Hose steht da und sagt: ‚Frau X? Guten Tag. Ich fahre Sie jetzt in den OP‘.

Ich: ‚Moooment! ich möchte erst mal die LmaA-Tablette.‘
Das ist ja Mehrfach-Beschiss:
Es gibt keine nette Schwester C, zur 3. OP am Freitag das Zimmer 13, die Transporter sind nicht mehr grün und wieder keine LmaA? Nö-nö!
Wortlos geht er raus und kommt mit A/C zurück, sie gibt mir die Tablette mit einem Schlückchen Wasser; der Typ schiebt elegant mein Bett gen Fahrstuhl, wir sind in Begleitung von A/C. Übergabe im Vorraum der Anästhesie.

Alles danach läuft ab wie erfahren. Aufgewacht, sickert langsam der ein oder andere Gedanke ins Hirn und bringt mir Erkenntnisse: 1.: Pflegenotstand, stimmt ja! 2.: Ich will die 3 Tage hier keine weiteren, neuen Kontakte knüpfen, sondern meine Ruhe. Nur wenig, soviel wie nötig, quatschen über Belangloses und ‚Tschüss‘. Doch diesmal, so die Ärztin, soll es 6 statt 3 Tage Aufenthalt geben.

Ich halte mich an Distanz zu Anderen, leider reichte es dennoch zwei miteinander wohl bereits gut bekannten Männern, immer wieder sexistische Witze oder zweideutige Sprüche vom Stapel zu lassen. Wenn ich sauer wurde, hab‘ ich mich – denke ich – in dem Gefecht ganz gut geschlagen. Angenehm ist was anderes, nötig war der Mist schon gar nicht. Dafür gibt’s jetzt oft Musik auf die Ohren. Meine Mitbewohnerin ist 90 Jahre alt. Es macht ihr nichts aus, dass ich wenig spreche. Da steht sie ganz gelassen drüber.

Oberarztvisite am Dienstag. Die Oberärztin schneidet einen Teil des Verbandes auf und ist mit ihrem Machwerk überaus zufrieden, die Assistenzärztin freut sich auch, und die PJ-ler gucken hoch interessiert. Ich kann das vor dem Spiegel gar nicht nachvollziehen, aber das erfahrene Personal kennt den Verlauf vielleicht schon durch Erfahrung!? Kurz: Mittwoch, den 12. Juli kann ich doch schon raus.

Das ist die erfreulichste Routine in diesem Zusammenhang, das Packen, es passiert in Windeseile, und der innerhalb von 20 Minuten fertiggestellte Arztbrief rundet alles wohlig ab. Die Nase ist frisch verklebt, aber ich ja auch schnell zu Hause.

Einmal pro Woche muss ich ab sofort in die Ambulanz zur Untersuchung, Verlaufsbeobach-tung und letztlich dann Fädenziehen. Und für mich in der Hoffnung, dass sich die Nasenflügel wieder angleichen.
Sonst gehe ich in ein Ghetto – -- ‚Zeit in petto‘, das Gedicht weiter oben, hab‘ ich nach der Melodie von ‚in the ghetto‘ schon mal parat. Aber ich bin zuversichtlich, eigentlich.
--Meist ist Geist geil--

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Re: Tagebuch Rubbel
« Antwort #39 am: 20 August 2023, 23:27:24 »
Rückenwind
(Elpis)

- verloren
in deinen armen
hebst du mich auf
mit deinem blick
einem augenkuss
-----------------------
und hand in hand
führen wir uns
wieder gegenseitig
heim - oder
an der nase herum
« Letzte Änderung: 21 August 2023, 00:03:56 von Rubbel »
--Meist ist Geist geil--

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Re: Tagebuch Rubbel
« Antwort #40 am: 04 Dezember 2023, 13:17:36 »
Lasst uns froh und glücklich sein?!

Kriege und bewaffnete Konflikte ("Stell Dir vor, es ist Krieg, und Keiner geht hin" **), Naturkatastrophen, Kinderarmut, Gewalt gegen Kinder, Kinderarbeit, Frauenhass, Vergewaltigungen, Verstümmelungen, Apartheid, Klimawandel …
Profitgier, wirtschaftliche Interessenlagen, Verträge mit Diktaturen, Menschenrechtsverletzungen,Machtkämpfe, Drogenhandel,  (Rechts-)Radikalismus, Ausbeutung aller Art …
Prunk, Steuerentlastungen Superreicher, Kryptogeschäfte, Finanzkriminalität, Künstliche Intelligenz, scheiternde Klimakonferenzen, ‚Wasserrechte‘ für Konzerne …
Endlose Aufzählungsmöglichkeiten – Politikverdrossenheit.

Was wird Sah... Wagenk ... machen? Kann irgendwer oder -was etwas ausrichten überhaupt? Und die Welt, was ist mit der Welt?

Es fällt schwer, alledem zu folgen, ohne verrückt zu werden. Früher mal sind die Menschen hierzulande ausgewandert, reisten nach Indien, Australien, Neuseeland oder verlegten ihr Domizil nach ‚Malle‘. An vielen Wänden stand damals: ‚Bleibe im Lande und wehre Dich täglich‘. Ist das heute noch möglich? Wo, wie, wozu?

Alle diese Gedanken treiben mich um. Ich mag schon kaum noch einkaufen gehen. Bis zu 1000 Liter Wasserverbrauch für 2-3 Avocados, 120 Liter Wasserverbrauch pro Jeans, Pullover aus Polyester, Acryl, Elasthan, Acetat, Polyacryl, alles mit Erdöl, Erdgas Kohle hergestellt, Schwitzpackungen, die spätestens nach fünfmaligem Waschen in den Müll müssen, aber von der Zusammensetzung nur mit immensen Kosten wiederverwertet werden könnten, oder auch gar nicht, oder auch wiederum umweltschädigend. Obst und Gemüse, die lange Flugzeiten hinter sich haben.

Sollte ich doch noch mal ‚Oma‘ werden und noch eine Generation danach kommen … werden meine (Ur)Enkel auf dem Mars Urlaub machen, sich mit Drohnen fortbewegen, sich in künstliche Intelligenzen verlieben? Was wird sein in 40 Jahren? Was bedeutet uns Ethik? Was wird aus Kunst, aus Freiheit, aus Schutz, aus überhaupt allem, wofür so viele Generationen vor uns sich eingesetzt haben und auch ihr Leben gelassen haben?
Es möge mir niemand erzählen: 'Ach, wird schon ... Du siehst das zu negativ. - Hey, also bitte.'

Es ist zum Durchdrehen! In den letzten Jahren hab‘ ich meiner Tochter immer Goldschmuck geschenkt. Ich glaube, dieses Jahr schenke ich ihr einen Gutschein für ein Frauen-Hammam. Etwas Entspannung.
Mehr geht nicht, als mich um den mir allerliebsten und allernächsten Menschen zu sorgen.

 **ich denke oft an Wilhelm Reich's Buch: 'Rede an den kleinen Mann'
« Letzte Änderung: 04 Dezember 2023, 23:10:24 von Rubbel »
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Re: Tagebuch Rubbel
« Antwort #41 am: 17 Dezember 2023, 20:05:51 »
Der Himmel über Berlin

Heute am frühen Nachmittag ist meine Tochter nach vermeintlicher (4.!) Corona-Infektion mit dem ‚Restbestand‘ von leichten Kopfschmerzen und Schnüffelnase wieder raus- und spazieren gegangen.
Kaum war sie weg, dachte ich mit Blick aus’m Fenster: ‚Jooa … sieht noch ganz schön aus, ich sollte auch rausgehen, ist sowieso ja verkaufsoffener Sonntag, da kann ich doch mal eine Tour durch ne feine Einkaufsmeile wagen, und vielleicht finde ich noch nen schönen Lederrucksack oder nen Kurzmantel, der stylish ist und nicht nach ‚Stangenware‘ aussieht'.

Es war bereits halb vier, als ich draußen war, und das war ein ‚Flash‘: der Himmel war in zartes Pink getaucht – mit sanften Übergangen in ein warmes Hellblau, und nur ganz seidene Wolkenschleier waren zu sehen. So wunderschön, dass ich an der nächsten Ampel einem wartenden Mann sagen musste: Wie schön der Himmel ist, nicht wahr? Und total berauscht von diesem Farbspiel ging ich zur S-Bahn. Ich war nicht allein so fasziniert, sondern auf dem S-Bahn-Steig hatten mehrere Menschen Ihr Smartphone gezückt und versuchten sich an eindrucksvollen Fotoaufnahmen.

Mein Plan war, nach 3 Stationen in den Bus zu steigen und den Ku’Damm runterzufahren, dann irgendwo, inmitten der Anreihung teurer Boutiquen auszusteigen, um mir was Exquisites zu gönnen. Bis 18.00 Uhr war ja noch Zeit. Aber weil es so schön war draußen und die Straße beleuchtet – mit dem Himmel zusammen fast märchenhaft, bin ich ein langes Stück gelaufen, bis ich doch noch in einen Bus gestiegen bin.

2 Stationen Bus und dann standen wir. Und standen. Und standen – im Stau, bis der Busfahrer ausrief: ‚Wie Sie sehen, geht hier gar nichts mehr. Wer möchte, kann jetzt aussteigen‘.Die Uhr lief. Klar stieg ich aus, in der Hoffnung, dass ich noch was finde. Chaos auf der Straße, ein kleiner Polizeiwagen … jemand wurde evtl. gefilzt. Und dann lautes Getöse eines Autokorsos. Dem nicht genug, fuhren 2 große Polizeieinsatzwagen (Bullenkutschen) voll besetzt an mir vorbei. Mit 'voll besetzt' meine ich: Da machten 'vorläufig Festgenommene' die Passagiere aus. Hatte ich meinen Rucksack zu? – Ja, zum Glück! Weihnachtszeit heißt hier Taschendiebstahl- Hochkonjunktur.

Die Boutiquen waren zu 95 % zu. Shit. Ich ging also und ging, stand dann doch wieder an einer Bushaltestelle, und mir fiel auf, dass genau gegenüber die große Spielbank war. Die elektronische Anzeige versprach die Ankunft des Busses in 1 Minute, doch er kam nicht, wahrscheinlich kam er nicht durch den Verkehr. Hinter mir hörte ich prompt, wie sich Männer in gebrochenem Deutsch stritten – in etwa: ‚Bist Du blöde? Hau ab! Dir leihe ich nie wieder Geld. Du verspielst das ja sofort. Geh – geh. Ich schaute mich um: 5 Männer im Pulk. Gegenüber die Spielbank. Ich fühlte mich unwohl. Also zu Fuß weiter. Nach kaum 2 Schritten kreuzten sich meine Schritte mit denen einer Bekannten von damals, einer Glücksspielerin, die gerade anhob, die Straßenseite zu wechseln. Wohin konnte ich mir denken, und wir mochten uns beide nicht grüßen. Ich nahm bloß wahr, dass sie ein wenig heruntergekommen aussah. Kein Wunder, dachte ich, und war so unendlich froh, dass ich davon ‚weg‘ bin.

Ein paar Schritte weiter war eine Boutique auf, ich bin rein, schnappte mir einen Kurzmantel, der leider zu groß war, aber ehrlich: In dem Moment hätte ich wirklich nicht mehr groß auf den Preis geachtet. Leider war er nicht in meiner Größe da, und nun war es schon 17.30 Uhr.
Also kaufte ich mir einen Pullover und war kurz vor 18.00 Uhr dann auf dem Weg zum Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche, den ich eigentlich ‚hasse‘, weil dort ja vor ein paar Jahren der terroristische Anschlag war und meine Tochter direkt dort, ein paar Meter weiter, in einem Accessoire-Laden gejobbt hatte. Mensch-Mensch, ich bin damals vor Angst fast ausgerastet.

Aber es gibt eine Sache, die ich dort einfach haben ‚musste‘: Maronen. Maronen sind das einzige neben allem Schund an Essen, was mich dorthin zieht. Es war knüppeldicke voll. Grausam. Früher hat mir das nichts ausgemacht, mit vielen Menschen an einem Ort zu sein, aber das hat sich geändert. Meine Gedanken wurden unschön: Mann-ey, musst Du schubsen? Arschloch! Ja, und DU da musst unbedingt eine Riesenbratwurst fressen … hoffentlich platzt Du nicht gleich hier.
Unschön also *grins* Und die Alk-Fahnen. Ätzend! Durchgekämpft bis zum Maronenstand wurde ich echt freundlich begrüßt und bedient. Maronen sind nicht der größte Verkaufsschlager auf diesem Markt, und so war ich auch gleich dran!

Der Nachhauseweg mit dem Bus war … auch in Alkolhol-geschwängerter Luft, das Fahrzeug proppenvoll. Der Busfahrer tat mir leid, und ich mir selbst auch *lach*. An ‚meiner‘ Endhaltestelle, direkt an der S-Bahn und auf einer Hauptverkehrsstraße vollendete sich das mir schon bekannte Bild: angekettete Fahrräder, die demontiert waren – ohne Hinterrad, ohne Vorderrad, ohne Sattel, absolut verbeult (evtl. zertreten).

Zuhause erzählt mir meine Tochter, dass sie sich noch mal getestet hat und schon beim Einträufeln der Test positiv war. Na, Mahlzeit! Immerhin hab ich letzten Mittwoch im Zuge der Blutabnahme gleich eine Auffrisch-Corona-Impfung bekommen plus einer Grippeschutzimpfung. Dennoch sollten wir nicht in einem Raum sein. Vorläufig.

Aber ein paar Stunden vorher war alles schön: Der Himmel über Berlin.
« Letzte Änderung: 17 Dezember 2023, 21:26:20 von Rubbel »
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Re: Tagebuch Rubbel
« Antwort #42 am: 25 Dezember 2023, 17:21:50 »
25.12.23

Meine Tochter verblüfft mich gerade. Sie fliegt morgen früh nach Thailand und trifft sich auf dem Zwischenstopp in Istanbul mit ihrem besten Kumpel, nimmt ein Geschenk entgegen für seine Freundin, die z.Z. in Thailand lebt und trifft sich mit ihrer eigenen Freundin in Thailand, um mit ihr gemeinsam 3 Wochen Urlaub zu machen.
Eben klopf ich an ihre Tür, öffne sie und sehe sie im Bett ganz entspannt am Laptop. Ich musste lachen, als ich ihr sagte: 'Du bist ja cooool, ich an Deiner Stelle hätte jetzt schon 3 x den Koffer ein- und wieder ausgepackt, um zu kontrollieren, ob ich was vergessen habe ... und Du liegst da ganz entspannt! Voll lustig!'
Sie guckt mich an, gähnt und sagt mit einer ausladenden Handbewegung: 'ooooch, geht schon alles'.
tsetsetse. Das ist mir ne Flitzpiepe :))))
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Re: Tagebuch Rubbel
« Antwort #43 am: 25 Dezember 2023, 20:39:37 »
Mal sehen ob sie morgen früh auch noch voll gechillt ist. 😁
Ich bin kein Anwalt sondern gebe nur meine eigene Meinung wieder

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Re: Tagebuch Rubbel
« Antwort #44 am: 31 Januar 2024, 19:49:32 »
Hab' mir gerade die Debatte/Aussprache über den Verteidigungshaushalt auf Phoenix angesehen. Ich bekomme 'Beklemmungen', wenn ich darüber nachdenke.
In meiner Heimatstadt, als ich Jugendliche war, habe ich vor allem Engländer, also englische Besatzungssoldaten gesehen. Damals war das einfach so, nichts Besonderes: Nicht nur marschierende junge Männer, voll mit Lasten, gekleidet in fetter Tarnkleidung ... auch welche in Jeeps (ob Panzer - das weiß ich gar nicht mehr). Abends und vor allem am Wochenende, sahen meine Freundin und ich sie  in den Discos (ja, ich weiß, heute 'Clubs'). Sie waren alle nett, viele konnten sehr gut tanzen (vor allem die aus der Karibik (=engl. Kolonialzeit) ), die Musik war klasse, Soul vom Feinsten! Wir haben viel englische Umgangssprache gelernt - und die Soldaten haben sich über jedes Wort gefreut, über jeden Satz, mit dem sie 'was anfangen konnten' :)) Die 'Military Police' kam allerdings öfters, weil viele zum 'Komasaufen' neigten.

Heute?
Ich weiß nur eines: Ich möchte keinen Panzer oder ein Heer von Soldaten und Jeeps hier so in den Straßen sehen!!
Das sagt sich so leicht, ich weiß.
Was, wenn in Amiland Wahlergebnisse in Richtung einer Partei gehen, die sich von der NATO entfernt?
Ich weiß gar nicht, wie ich meinen Gedanken eine feste Spur geben könnte - bei allem, was so geschieht.
Folgen von Profitgier, von ausbeuterischen 'Wirtschaftsbeziehungen'. Folgen von Faschismus.
Was soll nur werden?? Leider glaube ich nicht mehr an 'Weltfrieden', und das ist für mich ein Realismus, gegen den ich mich immer gerne verwehrt habe.

« Letzte Änderung: 31 Januar 2024, 21:03:39 von Rubbel »
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