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Tagebuch Rubbel
Rubbel:
Ganz großen Dank Dir, Freitagessen!
Ich wünsche Dir auch alles Gute und Liebe - und vielleicht lernen wir uns Ende d.J. ja mal face-to-face kennen?! ... mit Olli und evtl. noch anderen Usern. Das würde mich freuen!
Viele Grüße R
Rubbel:
Wohltätigkeitshaus, 1. Episode
Die Vorbereitungen liegen schon hinter mir: Einweisung vom Facharzt abgegeben, Blutabnahme, EKG, Anästhesie, Vorgespräch … nun geht’s los.
Um 5.00 Uhr das Haus verlassen, Öffis genutzt.
Rucksack auf den Schultern, den Koffer hinter mir herziehend, komme ich pünktlich an in der sechsten Etage. Es ist kurz vor 6.00 Uhr.
Station Neunzehn, Schwester A:
‚Wie heißen Sie noch mal? Moment, da muss ich mal gucken. Hmm, ich habe Sie hier gar nicht …. Aaa-ja! Ein Zimmer haben wir noch nicht für Sie, ich verwahre dann noch Ihre persönlichen Sachen, das ist dann das letzte, was ich heute im Nachdienst mache. Meine Kollegin aus der Frühschicht kümmert sich um Sie, wenn Sie aus dem OP kommen. Hier das OP-Hemd, für Ihre Kleidung haben wir hier eine Mülltüte so lange. Sie ziehen sich dann hier aus.‘ A schiebt ein Bett in den Abstellraum und stellt eine spanische Wand auf. ‚Hier muss alles immer steril bleiben‘, sagt sie, und ich tue, wie mir geheißen … steril? Sieht gar nicht so aus, denke ich. Kaum, dass ich brav auf dem Bett liege, kommt der Lieferant der beiden Frühstücks-Sammelcontainer, er schiebt sie direkt zum Fußende meines Bettes. ‚Mooorgen‘ … ‚Hi‘. Hi? Warum bin ich noch so cool? Achja, ich krieg‘ ja gleich eh eine kleine Dosis ‚Egal-Tablette‘, ein Glück.
Die Schwester hetzt zu uns. Es ist nichts Absonderliches, es ist nur wegen meiner Akte, die sie kommentarlos unter mein Kissen schiebt. Wie freundlich, mannomann, die muss ja angekotzt sein von ihrem Job … und ich wende mich an sie, bevor sie gänzlich weg ist: ‚Wann bin ich denn dran? Können Sie das evtl. abschätzen? Ich frage, weil der Anästhesist aufgeschrieben hat, dass ich eine ‚Egal-Tablette‘ bekommen kann. Die hätte ich dann gerne.‘
Mit strengem Blick und einem heftigen Ruck zieht sie meine Akte unter meinem Kopf wieder hervor und blättert … 5? 7 Seiten? Mehr gibt’s noch nicht in der Akte.
‚Nee-nee, davon steht nichts in der Akte.‘ So landet diese wieder unter meinem linken Ohr. A. ist wieder weg, der Lieferant sowieso.
Ich krame meine Krankenakte hervor, blättere, lese: Prämedikation: 3 mg XY. So was hat immer wieder das Zeug, mich müde und schläfrig zu machen, sobald mein Anflug von Gedanken wie: ‚wie kann man so blöd sein, die paar Seiten, ich hab’s sofort gesehen. Booaah‘ – ich fasse es nicht!‘ abgeklungen ist. Irgendwann – vielleicht nach 40 Minuten – kommt ein Pfleger. Er gibt mir ein hellblaues, federleichtes Häubchen, mit dem ich die Haare abdecken soll. Es quietscht und knackt, während er per Fußauftritt die Bremse des Bettes löst und mich in Richtung Aufzug schiebt … fahren wir hoch oder runter? Runter wohl … der Weg in den OP scheint verschlungen und ganz schön weit.
Diese Patientenlieferanten sind alle grün gekleidet, tragen Mundschutz, viele auch ein leicht-luftiges hellblau-transparentes Haarhäubchen – wie meins. Ich bin schon überfordert mit meinen Eindrücken. Dann schaltet sich mein Kopf aus bzw. auf niedrigschwellige Wahrnehmung … nur das Wichtigste, Gröbste.
Bis zur Anästhesie werde ich sicher dreimal gefragt, wer ich bin, was gemacht wird … ‚das ist zum Schutz, damit wir Sie nicht verwechseln‘ … sagt ein weiterer Grüner. Verwechseln … welch ein Gedanke …
Die Anästhesisten in dem kleinen Raum sind gut drauf und scherzen mit mir, legen auf beiden Seiten Zugänge … und mit der Zeit laufen mir die Tränen. Scheiße! Warum habe ich die Tablette nicht bekommen …
Irgendwann dann die Sauerstoffmaske. Dann bin ich ‚weg‘. Eine Zeit, die es für mich gar nicht gibt, beginnt. Sie endet im Aufwachraum mit einigen anderen frisch Operierten. Es ist kurz vor 10 Uhr! Erst kurz nach 11.30 kann ich auf die Station geschoben werden. Eine zu flache Atmung hat vorher die angeschlossenen Geräte immer piepsen lassen. Ich bekomme ein Atemübungsgerät und Sauerstoff. Und das Bett am Fenster, denn die Mitpatientin ist noch im OP.
Einer meiner Ex-Freunde ist hier. Er liegt in der 3., ich in der 6. Etage. Er hatte einen Unfall: Voll besoffen ist er die Treppe hinuntergefallen und sein rechtes Hüftgelenk ist kaputt. Das ist schon vor einem Dreivierteljahr passiert. Die ersten beiden OPs für den Einsatz eines künstlichen Hüftgelenks waren erfolglos wegen Entzündungen, die mussten wieder raus, hier erfolgt der 3. Versuch. Ich hatte ihn schon mal besucht vor wohl 3 Monaten. Früher war er mal ein total Attraktiver, nun sieht er um 20 Jahre älter aus als er ist. Vom Leben gezeichnet. Vom Alkohol auch etwas langsam im Denken – oder hab‘ ich früher was nicht gecheckt?
… Ende Teil 1 …
Rubbel:
Ich taste mein Gesicht ab, fühle die Pflaster, und traue mich nicht an einen Spiegel. Hunger hab ich, Hunger und Durst. Die Frühschicht ist nett! Sie informiert die Essensausgabe, die noch netter ist, ans Bett kommt, sagt, was sie alles hat, fragt, was ich alles möchte! Herrlich! Apfelsaft – vegetarisches Essen vom Mittag! Ich bin sehr zufrieden, schlafe in Etappen noch mehrmals ein, bis ich dringend eine rauchen will. Aufstehen geht wie geschmiert. Eine Sekunde vor dem Spiegel … krass … Zigaretten steck ich in den Ärmel und gehe raus.
Unten im Hof, wo auch das Personal ungehemmt raucht, sehe ich ihn im Rollstuhl sitzen. Damals war er Sozialarbeiter, ohne Freude am Beruf. Eher ein Aussteiger, gesellschaftlich. Wir haben uns in der Disco kennengelernt, es war total romantisch: Ich hatte ihm auf ein Tempo-Taschentuch meine Tel.-Nr. geschrieben, er steckte das Tuch in seine Tasche, und zu Hause war es schon aufgeweicht in der engen Jeans. Er hatte nicht mehr alle Ziffern lesen können und alle möglichen Kombinationen ausprobiert und mich irgendwann erreicht. Daraus entwickelte sich letztendlich eine ‚Freundschaft Plus‘ über mehr als 10 Jahre. Danach große Pause, über sicher 15 Jahre, bis vor kurzem. Irgendwie freue ich mich.
‚Och, sieht doch gar nicht so schlimm aus‘, sagt er charmant lächelnd, und ‚das wird schon‘ – und erzählt mir von seinen Neuigkeiten. Ich fühle mich gut abgelenkt derweil. Ich muss gut hingucken, um das Bekannte und Vertraute in seinem Gesicht wiederzufinden – dabei ist er 2 Jahre jünger als ich. Ich versorge ihn mit Zigaretten und bin froh, hier überhaupt jemanden zu kennen.
Ja, er war damals oft bei mir, und weil ich zu der Zeit noch viele Feten zu Hause hatte und immer Alkohol-Reste auf dem Balkon lagerten, war auch immer was für ihn da. Manchmal kam er auch schon angetrunken, auch ohne Voranmeldung. Er spielte Gitarre und sang, hatte seine eigene Band.
Er war melancholisch, aber auch witzig, beides.
Spielsucht und Alkoholismus. Mein Ex-Mann hat beides ‚abgedeckt‘. In der Rückschau waren eigentlich alle auf ihre Weise süchtig. Nicht für ein ‚High‘, sondern zum ‚Funktionieren‘. Vielleicht war das die Zeit, die 90er Jahre. Wirtschaftlich war alles gut so weit, Arbeitslosengeld gab’s noch lange … nicht wie heutzutage, von Hartz oder Bürgergeld keine Spur. Eine Zeit sich amüsieren zu können. Zeiten der Unbekümmertheit.
Wir sprechen über die Sucht, die Süchte, und ich erzähle ihm, dass ich jetzt fast 4 Jahre wieder spielfrei bin. ‚Ach – doch so lange hast Du noch gezockt?‘ – ‚Ja, so lange noch. Immer wieder, in Schüben‘ und erzähle ihm alles, auch von der Betreuung für die Finanzen, vom Gerichtsvollzieher … alles, und er staunt. Zuletzt frage ich ihn: ‚Jetzt, nachdem Du das erlebt hast und schon über 9 Monate im Rollstuhl sitzt … würdest Du noch mal Alkohol trinken?‘
‚Oooaaach jaaa – so ein, zwei Bierchen würde ich schon gerne ab und zu trinken.‘ Die Ehrlichkeit ehrt mich, aber ich weiß: Eine Verbindung, ähnlich wie früher, werden wir nicht mehr haben, auch nicht rein freundschaftlich. Weil ich das nicht verstehe, nicht verstehe, dass ein Mensch, der durch die Hölle gegangen ist und die Möglichkeit hat, ‚nur‘ darauf zurück zu sehen, immer noch blauäugig und zuversichtlich weitermachen kann und will mit Dingen, die ihm so sehr schaden. Nett und lieb ist er dennoch, nur niemand, der mich irgendwie ‚weiterbringt‘, neue Lebensansichten mit mir teilt. Auf dem Rückweg schiebe ich ihn im Rollstuhl bis in sein Zimmer und an sein Bett, dann fahre ich zur Station 19.
Zurück auf meinem Zimmer ist meine Bettnachbarin da. Eine türkische Frau, sehr nett, sie lächelt viel. Wir unterhalten uns schnell locker und freundschaftlich. Später telefoniert sie und bekommt ganz schnell darauf Familienbesuch. Mit sehr, sehr viel Essen! Massen an Essen! Fleisch! Auch für mich. Das ist nicht gut. Ich kann Fleisch nicht riechen. Es ist schwer und tut mir leid, es abzulehnen, und ich hoffe, niemand nimmt mir das übel.
Bald darauf kommt meine Ärztin zur Visite. ‚Wir haben jetzt das Gewebe in der Histologie, die Auswertung dauert ca. 1 Woche, in 2 Tagen können Sie erst mal nach Hause. Wir rufen Sie an, wenn das Ergebnis da ist.'
Ich hoffe, das geht gut aus und dass die mich nicht zum Zombie machen.
Rubbel:
Ich geh noch mal runter … spazieren (hier sind ja alle irgendwie lädiert), hole mir an einem Stand einen vernünftigen Kaffee, weil der auf Station Plörre ist, und denke nach. Es muss ja nicht sein, dass die noch Reste finden, kann ja auch sein, dass alles raus ist und gut. Nicht an den worst case denken – bringt ja nichts und ist vertane Zeit: Vielleicht mach‘ ich mich ‚umsonst‘ verrückt, ich muss jedenfalls erst dann damit umgehen, wenn ich informiert werde. Also rauche ich noch eine, telefoniere, schreibe meiner Tochter 'ne WhattsApp: ‚alles gut verlaufen, Ergebnisse kommen noch. Kann übermorgen schon wieder raus. Erzähl mal, was Du so machst?! Wie war die erste Feier? Hattest Du das blaue oder das grüne Kleid an? Bussi.‘
Nachdem sich der Nachtdienst gezeigt hat, dauert es nicht lange – und ich schlafe friedlich. Wird schon alles. Meine Bettnachbarin sagt am Morgen: ‚Er ist Araber, hab ich gesehen (sie sagt das mit den Zeigefingern Richtung Augen), und ich höre das auch (ihr Finger am Ohr verdeutlicht das Gesagte). Duschen, Frühstücken, rausgehen, 1 Schachtel Zigaretten nur für den Ex – dann hab ich meine Ruhe im Hof. Stöpsel mir Musik in die Ohren und lass‘ es mir gut gehen bis mittags. Kaum im Zimmer, kommt wieder die Familie meiner Zimmergenossin, diesmal mit ganz viel Fleischlosem, und das ist nun für mich, und mein Essen wird unter freundlichem Nicken beobachtet – ein Ayram ist auch dabei. Ayram hatte ich vorher noch nie getrunken. Insgesamt fühle ich mich gemästet. Total lieb sind die alle. Die Frau von der Essensausgabe kommt rein, sagt: ‚Oh, Sie haben schon, na, dann nehm‘ ich das Essen wieder mit. Guten Appetit wünsche ich Ihnen!‘ Ich geh bald wieder raus, rauchen, es wird mir zu eng.
Morgen geh‘ ich heim, und das ist gut so. Vorher sag‘ ich zu den Schwestern: ‚Ich müsste dann morgen den vorläufigen Arztbrief, vor allem die Laborwerte, mitnehmen – für den Hausarzt.‘
Es ist Donnerstag. Die Nacht war entspannt. Wir beide sitzen auf unseren Betten, haben gefrühstückt, geredet, gelacht, warten auf unsere Entlassung. Meine neue Bekannte bietet mir an – nein, kündigt an, dass ihre Familie mich selbstverständlich mit dem Auto nach Hause fährt. Ich tue, als hätte ich sie nicht verstanden, lächle sie an. Das ist so nett, dass ich es vermeiden werde, und außerdem will ich hier schnellstens raus. Der Arztbrief? – Noch nicht fertig. Warum auch? Ich bin unruhig und genervt – gehe raus, rauchen. I-r-g-e-n-d-w-a-n-n kann ich einen Brief mitnehmen, stürze ins Zimmer, meine Nachbarin und ich drücken uns, und ich sage: ‚Ich muss sofort los. Alles Liebe Dir und natürlich auch Deiner Familie! Schön, dass wir uns kennen gelernt haben. Du bist ein Schatz! Vielleicht sehen wir uns mal wieder …‘. Raus bin ich. In der U-Bahn fragt ein Typ: ‚Operation gehabt, was?‘ und deutet auf mein Gesicht.
Rubbel:
Zuhause alles okay, ich bestelle Lebensmittel für die nächsten Tage, wasche, bügle, sowas. Freitag die Email vom Krankenhaus: Mo wieder dasselbe Prozedere: alle Voruntersuchungen, alle Unterlagen mitbringen, um 8.00 Uhr da sein. (Kein Anruf wegen der Histologie.) Ich hole die neue Einweisung vom Hautarzt. Wird dann wohl seine Richtigkeit haben. Eine Woche ist ja noch nicht rum. Geschlagene 5 Stunden muss ich für das alles wieder einrechnen.
Ich nehm‘ mir am Montagmorgen schnell Bananen mit, bin pünktlich um 8.00 Uhr vor Ort. Nachdem ich alles im Management wieder abgegeben habe und gut 4 Stunden verstrichen sind, sagt mir die Frau vom Patientenmanagement: ‚Bitte nehmen Sie noch Platz, die Oberärztin möchte noch mit Ihnen sprechen. Sie müssen nicht lange warten, ich sag‘ ihr, dass Sie da sind!‘ Vorbesprechung – das ist schön, weiß ich doch danach, wie die mich nun zusammenflicken.
‚Ja, Hallo, setzen Sie sich doch! Wir haben das Ergebnis aus der Histologie bereits! Es muss nachgeschnitten werden rechts, wir machen das morgen früh. Sie wissen ja, es ist gut, dass Sie gekommen sind. Das Wichtigste ist, dass wir alles rausbekommen. Das wächst sonst nur nach und breitet sich weiter aus, wenn wir nicht exakt arbeiten, und das kann Sie ihre Nase und auch Ihr Auge kosten; das wollen wir ja nicht. Ihre kosmetischen Wünsche müssen jetzt erst mal in den Hintergrund treten, tut mir leid. Morgen um 6.00 Uhr melden Sie sich wieder auf Station 19, bitte. Sie sind die 2. auf der OP-Liste. Wir tun alles, um das Ergebnis so gut wie möglich …‘.
Pfff … und meine Tränen lassen sich nicht unterdrücken. So eine Hiobsbotschaft! Nase … Auge verlieren? WHAT? Wir verabschieden uns, verbleiben so.
Okay, ich muss da jetzt also durch. Ein Zurück geht ja nicht. Abbrechen ist auch keine Lösung. Erst mal schnell raus aus diesem Haus. Ich gucke nach dem ‚Ex‘, klar sitzt er da mit Zigarette. Ich geh hin, er freut sich: ‚Ach, kommst Du echt schon wieder? Wie schön! Hast Du noch Zigaretten? Das war meine letzte. Ich muss übrigens wieder ins Pflegeheim, die 3. OP am Freitag ging wieder daneben. Nun muss ich mindestens 6 Monate warten bis zum nächsten Versuch. Irgendwann gegen Ende der Woche werde ich abgeholt und komme erst mal wieder in dieses kack Pflegeheim zu den Bekloppten!‘
‚Oh, Mist, das tut mir wirklich leid. 6 Monate – das ist lange. Ich werde morgen das 2. Mal operiert.‘ ‚Ach, das ist wirklich nicht schlimm mit Deiner Nase …‘
Ich bin so gereizt, völlig angespannt!
Da sitzt noch ein Junge, also ein junger Mann - mit verbundenen Unterarmen. Er bekommt die Situation mit und sagt zu meinem Ex: ‚Wenn ich mich nicht täusche, fliegt Dir gleich ne Handtasche ins Gesicht!‘ – wie Recht er hat! ‚Wir sehen uns noch, bevor Du ins Heim gehst.‘ ‚Ach komm, meine Liebe, lass‘ uns mal drücken, haben wir noch gar nicht gemacht. Wir bleiben doch Freunde, oder? Das mit der Nase, das wird schon. Sieht echt gar nicht schlimm aus!‘
‚Na, sage ich, gucken wir mal, was die Zeit bringt‘ – ich beuge mich runter zur freundschaftlichen Umarmung, gebe ihm noch ein paar Zigaretten und sage, dass ich dann erst mal nach Hause muss. Packen und so. Er ist verunsichert, sagt, er muss wieder hoch zur Antibiose … und rollert davon.
Ich lächle den Jungen an und sage: ‚Gut erkannt! Ich kann’s wirklich nicht mehr hören, immer dasselbe: Och, wird schon und so. Was hast DU denn eigentlich gemacht, dass Deine Arme beide verbunden sind? Sind die gebrochen? Oder hattest Du einen Unfall? Was ist Dir passiert?‘
‚Nee-nee, was ganz anderes: Eigentlich hat alles angefangen mit meiner Zahnspange, ich hatte solche Schmerzen, und nichts hat geholfen. Ich hab mir dann ‚Legal Highs‘ aus Holland geholt, die sollten helfen. Hast Du schon mal gehört von ‚Badesalz‘? Na, jedenfalls hab ich das gespritzt, und mit der Zeit ist die Haut ganz schwarz geworden, abgestorben. Nekrosen, haben die hier gesagt. Die haben das jetzt aufgeschnitten.‘ Er zeigt mir Fotos auf seinem Smartphone. Ich sehe pechschwarze Unterarme, auf dem anderen Foto sehe ich die Unterarme aufgeschnitten. ‚Die nehmen jetzt Haut von den Oberschenkeln zum Abdecken‘, sagt er.
Ich bin schockiert! Richtig platt. Er sagt, er ist 19. 19 Jahre alt und so was. Wie furchtbar. Ich hatte schon mal von solchem Zeug gelesen, aber jemanden, der das benutzt hat, hab ich noch nie kennen gelernt. Ich streichle seine Hand. ‚Mann, das tut mir voll leid! Du musst die anzeigen! Das ist absolut verantwortungslos, so was zu verkaufen.‘ ‚Keine Chance‘, sagt er – das geht gar nicht zurückzuvollziehen, wer da verantwortlich ist, und ich hab mir das ja kurz hinter der holländischen Grenze selbst abgeholt … wegen Zoll und so, weißte?‘ ‚Verstehe‘, sage ich. ‚Puh! Wissen Deine Eltern, dass Du hier bist? Oder sonst jemand? Hast Du eine Freundin – jemanden, der Dich besucht? Du bist ja bestimmt länger hier damit, das ist ja keine Bagatelle.‘
‚Mein Freund weiß das, er hat das dann auch genommen und sieht genauso aus, auch alles schwarz. Er wohnt in Köln und ist mitten im Umzug. Ich bin schwul, weißte, und eigentlich hab ich auch noch einen hier, das heißt, wir waren mal zusammen und ich weiß nicht, wen ich will. Mein Freund in Köln, mit dem läuft das nicht mehr so, das war so schön mit ihm, aber jetzt … Hast Du schon mal von „Puppy Love“ gehört?‘ ‚Nö‘, sage ich, ‚keine Ahnung … was ist das? Ist er so viel älter als Du?‘
‚Nee … warte, zeig ich Dir‘ … und ich gucke wieder auf den Screen. Ich sehe verkleidete Männer, sie tragen Latexklamotten und Masken, die wie Hundegesichter aussehen, haben auch teilweise Leinen, Geschirr um den Hals. ‚Das ist Puppy Love, wir sind eine Community, und es gibt die Puppies, also die Welpen, und die Halter, also so ganz oberflächlich erklärt. Puppy Love gehört zur BDSM-Szene.‘
Ich nicke – ‚ach so … nee, hab ich noch nie was von gehört‘ … er hat es drauf, mich völlig von dem Schock von vorhin abzulenken. So erzählt er mir noch mehr und dass es sein zweites Ich sei und überhaupt so viel und alles, wovon ich noch niemals im Leben auch nur ansatzweise was gehört hätte. 19 Jahre, BDSM, Puppy Love – ist die Welt noch zu retten? Ich fühle mich alt bei dem Gedanken, aber ich gebe vor mir selbst zu: Ich finde es schrecklich. Ich mag schwule Männer total gerne und hab schon viele kennengelernt, mit einem geh ich alle paar Wochen Essen und Quatschen, ein guter Freund – aber ich glaube nicht, dass jemand von meinen Bekannten je aus einem Napf gegessen hat oder etwas, was ihm vom Esstisch auf den Boden geworfen wurde.
Und dabei mag ich diesen Tim, wie er heißt, er ist voll niedlich, irgendwie trotz allem arglos, herzlich in seiner offenen Art, und er weint, weil sein ‚Welpe‘ ihn nicht mehr so tief innerlich, herzlich, berührt wie am Anfang.
Aber jetzt muss ich wirklich nach Hause, schließlich ist morgen die 2. Operation. Wir verabschieden uns … wissen, wir sehen uns wieder, denn er liegt auf?? Station 19!
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