Nach erfolgreichen Klagen warten tausende Spieler auf einen finanziellen Ausgleich für erlittene Verluste. Doch die meisten Sportwettanbieter und Online-Casinos weigern sich. Die Hoffnungen ruhen auf einer Behörde in Halle an der Saale und auf dem Europäischen Gerichtshof – der jetzt urteilt.
David S. hat viel verloren. Am 30. April 2024 aber kann er sich endlich als Gewinner fühlen. Da urteilt das Landgericht in Ulm zu seinen Gunsten. Es entscheidet, dass die in Gibraltar ansässige Gesellschaft Hillside Limited exakt 29.116,94 Euro zuzüglich Zinsen an S., der seinen echten Namen nicht in den Medien lesen möchte, zahlen muss. Die Summe hatte er zuvor bei digitalen Glücksspielen auf der von Hillside betriebenen Plattform ABC verloren. Statt Genugtuung folgt für S. jedoch etwas ganz anderes: eine juristische Odyssee mit ungewissem Ausgang.
Deren Stationen ergeben sich aus umfangreichen Dokumenten, die S. WELT übermittelt hat. Sie werfen ein Licht auf mögliche Hindernisse für Klagen, mit denen deutsche Zocker vor Jahren bei Internet-Sportwetten und Online-Casinos erlittene Verluste zurückverlangen. Und sie belegen, dass sich große Teile der Branche auf rechtlich ungewissem Terrain bewegen, im Grenzbereich diverser europäischer und nationaler Normen. Dabei sollte das längst anders sein.
Digitale Sportwetten und Casinospiele sind ein bedeutender und stark wachsender Wirtschaftszweig. Nach der jährlichen Studie des europäischen Branchenverbands EGBA und des Analysedienstes H2 Gambling Capital ist der Glücksspielumsatz in Europa 2024 um fünf Prozent auf 123 Milliarden Euro gewachsen. 48 Milliarden Euro davon stammten aus digitalen Kanälen, das waren gut 20 Milliarden Euro mehr als 2019. Bis 2029 dürfte die Summe noch einmal deutlich auf 67 Milliarden Euro steigen, so die Prognose.
Mit rund 14,4 Milliarden Euro Umsatz war Deutschland nach Italien und Großbritannien der drittgrößte Markt, der Digitalanteil lag mit gut 20 Prozent allerdings weit unter dem europäischen Durchschnitt. Das dürfte auch eine Spätfolge eines rechtlichen Vakuums sein. 2010 hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) das bis dahin bestehende Glücksspielmonopol der Bundesländer gekippt; erst 2021 brachten diese eine funktionstüchtige Neuregelung zustande.
In der Zwischenzeit sollten digitale Casinospiele verboten sein, Anbieter von Sportwetten sollten zwar Lizenzen erhalten können, bekamen aber keine einzige. Die Unternehmen schreckte das nicht ab. Von wenig regulierten Standorten wie Malta und Gibraltar aus lancierten sie auf deutsche Zocker zugeschnittene Angebote. Diese legitimierten sie mit Verweis auf die Dienstleistungsfreiheit innerhalb der EU.
Mittlerweile ist diese Praxis das Ziel Tausender Klagen. Spezialisierte Kanzleien und Prozessfinanzierer werben mit angeblich garantierten Erfolgsaussichten für Spieler, die bei solchen Angeboten in der rechtlichen Grauzone viel Geld verloren haben. Sie sprechen davon, dass sich die Forderungen auf 20 Milliarden Euro summieren könnten, bei den Anbietern gilt diese Zahl als „maßlos übertrieben“.
Zahlreiche deutsche Gerichte haben im Sinne der Kläger entschieden, endgültig geklärt ist die Rechtslage nicht. Das dürfte sich bald ändern: Am Donnerstag will der Generalanwalt am EuGH mitteilen, wie er die Situation bei Casinospielen einschätzt. An seinem Votum dürften sich die Luxemburger Richter orientieren. Ende September wollen diese auch über Sportwetten entscheiden.
Zu laufenden Verfahren und deren möglichen Folgen wolle man sich nicht äußern, erklärt der Deutsche Online Casino Verband. Für den Rechtsanwalt István Cocron, der nach eigenen Angaben mehrere hundert Kläger vertreten hat, sind die anstehenden Entscheidungen „natürlich von großer Bedeutung“. In Deutschland sei die Rechtslage aber aktuell eindeutig, sagt er.
Eine dreistellige Zahl von Prozessen habe mit dem Ergebnis geendet, dass Anbieter ohne Lizenz Einsätze komplett zurückerstatten mussten. Und ihm sei keine einzige Entscheidung eines Oberlandesgerichts bekannt, die diese Ansprüche grundsätzlich verneinte. „Auch der EuGH hat bereits mehrfach erkennen lassen, dass die Nationalstaaten den Bereich des Glücksspiels aufgrund des hohen Suchtpotenzials eigenständig regeln dürfen“, sagt er.
Erfolge vor Gericht führen aber nicht zwangsläufig dazu, dass Kläger verspieltes Geld wiedersehen. Cocron und andere Anwälte berichten von unterschiedlichen Reaktionen. Während einige Anbieter anstandslos zahlten oder kulante Vergleiche anböten, zeigten sich andere renitent.
Zahlungsaufforderungen werden ignoriert
Das in Malta ansässige Unternehmen KIRSCHE etwa, das eine deutsche Lizenz besitzt, soll Zahlungsaufforderungen konsequent ignorieren. Dabei berufe es sich auf ein vor zwei Jahren in dem Inselstaat verabschiedetes Gesetz, das in der Branche als „Bill 55“ bekannt und berüchtigt ist. Es legt fest, dass Urteile aus dem Ausland gegen maltesische Glücksspielunternehmen nicht vollstreckt werden können.
Anlass der Amnestie dürfte die große Bedeutung der Branche sein: Nach jüngsten Zahlen macht sie zehn Prozent der maltesischen Wirtschaftsleistung aus. Die Regelung gilt als juristisch zweifelhaft, die Europäische Kommission prüft sie seit einigen Wochen.
Auch David S. forderte sein Geld erfolglos in Gibraltar ein. Am 9. Juli schreibt eine Anwältin der von ABC123 mandatierten Kanzlei Freshfields, das Unternehmen sei „weiterhin zu einem Vergleich in Höhe von 20 Prozent der ausgeurteilten Summe samt Kostenübernahme bereit“. Das ist S. zu wenig, er vermutet, dass sich die Firma den deutschen Vorgaben systematisch entziehen will.
Belegen sollen das auch ihre allgemeinen Geschäftsbedingungen. Darin heißt es unter anderem, dass ABC123 „keine Sorgfaltspflicht“ bei Themen wie Spielsuchtprävention schulde. Dass hinter der Plattform ein komplexes Geflecht von Firmen steht, erleichtert es für Kläger nicht. „Mitunter erschweren es die gesellschaftsrechtlichen Strukturen, den korrekten Adressaten für eine Forderung zu ermitteln“, sagt Cocron.
Auf mehrere Anfragen von WELT reagiert ABC123 nicht. Dabei scheut das Unternehmen keineswegs die Öffentlichkeit: Seit dem vergangenen Sommer sponsert es als erster offizieller „Wettpartner“ die UEFA Champions League. Im vergangenen Geschäftsjahr legte der Umsatz um neun Prozent auf umgerechnet gut vier Milliarden Euro zu.
Als britische Medien vor einigen Monaten über Pläne für einen Verkauf oder Börsengang berichteten, stand ein Wert von mehr als zehn Milliarden Euro im Raum. Gründerin Denise Coates gilt als reichste Britin, das Vermögen ihrer Familie wird auf umgerechnet mehr als acht Milliarden Euro geschätzt.
Um seine Forderung durchzusetzen, hat sich S. an die Gemeinsame Glücksspielbehörde der Länder (GGL) gewendet. Diese ist seit 2021 in Halle an der Saale ansässig, sie vergibt Lizenzen und kontrolliert, ob sich Unternehmen an Vorgaben halten. In einem ersten Schreiben teilt ein Mitarbeiter der GGL S. mit, dass er versuchen solle, das Urteil in Gibraltar zu vollstrecken. Das Vorhaben sei ergebnislos geblieben und habe ihn „an die 3000 Euro gekostet“, schreibt S. zurück.
Er will nun erreichen, dass die Beamten die Lizenz für ABC123 überprüfen und gegebenenfalls widerrufen. Wenn sie untätig blieben, drohe „irreparabler Schaden für Rechtstreue, Verbraucherschutz und Marktvertrauen“, schreibt er. Da bisher nichts passiert ist, will S. nun mit einer Verpflichtungsklage gegen die GGL vorgehen. Damit können Bürger untätige Behörden zum Handeln zwingen.
Anwalt Cocron, der S. nicht gegenüber der GGL, aber im Ulmer Prozess vertreten hat, sieht die Beamten grundsätzlich in der Pflicht. „Wenn sich Unternehmen weigern, ihre Verpflichtungen aus rechtskräftigen Urteilen zu erfüllen, sollte das auch für die Glücksspielaufsicht von Interesse sein“, meint er. Zuverlässigkeit sei die Grundlage der von der Behörde vergebenen Lizenzen. Diese könne auch dann infrage stehen, wenn wegen ihrer exzessiven Zockerei eigentlich gesperrte Spieler dennoch Zugang zu Glücksspielen hätten. „Wer ständig betrunken Auto fährt, behält seinen Führerschein schließlich auch nicht“, sagt Cocron.
Die GGL äußert sich nur allgemein. Aufgrund von Urteilen zu Rückforderungen könne eine „negative Prognose der Zuverlässigkeit zulasten der Anbieter nicht pauschal angenommen werden“, sagt eine Sprecherin. Wichtig sei die Prüfung im Einzelfall. Die Leistungsfähigkeit der Unternehmen werde im Rahmen der Aufsicht fortwährend geprüft. Sollten Anhaltspunkte vorliegen, welche Zweifel begründeten, werde denen nachgegangen.
Grundsätzlich sieht sich die Behörde auf einem guten Weg. In ihrem Jahresbericht heißt es, dass der Kampf gegen illegales Glücksspiel „herausfordernd“ bleibe, ihre Maßnahmen seien jedoch „wirksam“. Das sieht David S. anders.