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« Letzter Beitrag von Kraechen am Heute um 09:16:52 »
Hallo! Nachdem ich nun schon einige Tage hier gelesen habe- ein erster Beitrag.
Unser erwachsener Sohn (20) ist glücksspielsüchtig. Er hat es uns am 18.08.2024 meinem Mann erzählt, weil der ganz konkret gefragt hat, was denn los sei. Ich bin sehr dankbar, dass die beiden zusammen gesprochen haben. 2 Stunden lang- vielleicht sogar noch länger. Es gibt ja manchmal Intuition (Bauchgefühl), das sagt: "besser nicht stören". Ich denke, ich hätte den Kopf, der sich gerade aus dem Schneckenhaus herausgetraut hat ganz schnell den Rückzug antreten lassen, will sagen: toll, für M., dass mein Mann es geschafft hat, ihn reden zu lassen. Irgendwann kam er zu mir ins Bett und sagte: "M.
hat mir gerade gesagt, dass er spielsüchtig ist. Ich bin total schockiert. Ich kann jetzt auch nicht mehr darüber reden, es muss erst einmal ein bisschen sacken. Ich bin sehr sehr müde."
Ich war fassungslos. Das war eine Nachricht- die überhaupt nicht einzuordnen war. Gar nicht. Meine Schwester war 20 Jahre mit einem Spieler verheiratet. Sie haben vier Kinder zusammen. Ich bin "eng" mit meiner Schwester und ich habe so so oft mitbekommen, dass die Bank sie angerufen (oder geschrieben) hat: "ihr Konto ist nicht gedeckt". Nie Urlaub. Immer verzichten. Immer aushalten. Übertreibe ich? Nein, sicher nicht. Das waren die ersten Gedanken und Bilder. Kann doch nicht sein, dass mein Sohn so ist, wie mein Schwager!?! Ich stand auf. Googelte Glücksspielsucht. Lese von schweren Verläufen, abgebrochenen Therapien, Rückfällen und von Suizidgefahr. Weil man sie nicht sieht; die Sucht. Ach! Ich bin seine Mutter. Ich sehe sie nicht nur nicht- ich hatte auch keine Ohren dafür. Kein Gefühl- keine Intuition- einfach absolut gar keine Ahnung. Mir wurde schlecht. Ich musste mich übergeben- und schlief in dieser Nacht überhaupt nicht.
Am nächsten Morgen sind wir alle tatsächlich zur Arbeit gefahren. Wie im Nebel. Ich hatte eine Fortbildung (und muss noch heute immer passen, wenn ich von Kollegen etwas zu dem Thema gefragt werde). Nach Feierabend rief ich bei einer Beratungsstelle für Angehörige an. Wir bekamen einen Termin in der nächsten Woche. Abends redeten wir zusammen mit unserem Sohn. Ich weinte die ganze Zeit. Ich bin sowieso die Familien-Heuli, die immer nah am Wasser gebaut ist- und bei der immer Tränen fließen, wenn mir etwas nah geht- bzw. wichtig ist.
Am nächsten Abend sprachen wir. Wir weinten zusammen, versuchten zu fragen- (und zu verstehen), wir drückten uns. - M. hatte sich einen Weg überlegt, für den er um unsere Hilfe bat. Mein Mann sollte seine Finanzen übernehmen. Er wollte noch in der gleichen Woche zum Hausarzt, um nach einer Überweisung für eine ambulante Therapie zu fragen. Sein Wunsch schon in der ersten Woche: "ich will stationär". In der ersten Woche sind für mich alle Steine unseres Familiengefüges zusammengefallen. Ich stellte mir dauernd die Frage, wie das passieren konnte. M. ist jung- gesund- sozial gut integriert, hat eine Freundin, ein Abitur, macht eine Ausbildung, hat keine suchtkranken Eltern (außer einer Mutter die ab und zu heimlich raucht). Er muss doch auch klug genug sein, zu wissen, dass Glücksspiel nicht glücklich macht.... Wo ist unser so gut geglaubtes Verhältnis? Wo sind Vertrauen und Achtung und Liebe? Wie konnte er sich und uns so verraten- und wie konnten wir das nicht bemerkt haben?
M. hat einen fast 4 Jahre jüngeren Bruder. Der war in dieser Woche quasi "ausgeschlossen" und lebte alleine. Hörte, sah und fühlte, dass gerade etwas außergewöhnliches passiert. Mit M. sprachen wir jeden Tag, weil auch immer neue Fragen auftraten. Ich muss schon sagen: vorwiegend zur Sucht- und zum "warum", und "wie" und "wann" und "wie lange", "wie viel".....
Nach einigen Tagen sagten wir M., dass es seine Entscheidung sei, wen er ins Vertrauen ziehen wolle. Nur seinem Bruder sollte er es selbst sagen- sonst würden wir das tun. Wir mussten erst einmal wieder zusammen kommen.
M. sagte, er sei erleichtert, dass die Heimlichkeit nun beendet war.
In der Folgewoche fing er mit einer ambulanten Therapie an, und wir gingen zur Angehörigenberatung. Das ging so von Ende August, bis Anfang Januar. Er sagt noch heute, dass er in dieser Zeit spielfrei war. Leider kann ich nicht aus voller Überzeugung sagen, dass ich das heute noch glaube. "Große" Spiele, bzw. Summen werden nicht möglich gewesen sein- das hätte mein Mann ja gesehen, er konnte selbst paypal checken. Ich denke, es war Anfang Januar, als M. ein neues Konto eröffnet hat. Mit 50,-€ Guthaben, bei einer "jungen" Bank, weil das auch viele andere Azubis seines Jahrgangs gemacht haben. Für dieses Konto erhielt mein Mann keine Vollmacht....
Am 14.01. ging M. in die stationäre Therapie. Ich weiss, dass er davor Angst hatte. Am Vorabend und am Morgen des 14. war er im Herzen wieder Kind- im Kopf versuchte er erwachsen zu sein, ließ sich von seiner Freundin zur Klinik bringen- und war fort. Es ging uns so schlecht.... Wir waren stolz- und froh-, aber auch so hilflos. Ich glaube, mir wäre "loslassen" in eine andere Stadt, in eine eigene Wohnung ohnehin schwergefallen- aber diese Situation hatte ja noch einmal eine ganz andere Gewichtung. Und natürlich haben wir gedacht: naja, er hat ja relativ früh die Reissleine gezogen, hat "nur" eine relativ kurze Zeit ohne Kontrolle gespielt (nach seiner eigenen Einschätzung von ca. März bis August), er geht zur ambulanten Therapie und ist nun stationär. Wir glaubten an eine gute Perspektive.
Nach drei Tagen meldete M. sich. Er hatte sein Handy für eine Stunde am Tag. Es würde ihm gut gehen. Wir sollten uns bloß keine Sorgen machen. - Also gut. Er/wir sind auf dem Weg. Hoffnung.
Die Klinik ist nur knapp 30 km von hier entfernt. Nach 2 Wochen sagte er, er dürfe sein Auto da haben. Ob wir es bringen könnten? Vielleicht mit ein paar Gesellschaftsspielen / Büchern / ein bisschen Süßkram und Eistee? Na klar! Wir waren so froh, etwas "tun" zu können und ihn für diesen Schritt zu belohnen.
Manchmal kommen ja Dinge komisch zusammen. M. (war) immer ein aufgeschlossener Mensch, der schnell mit anderen ins Gespräch kommt, der sich gut unterhalten kann und der (Achtung! liebende Mutter-Brille): andere schnell von sich überzeugen kann. Er spielt Fußball seit er 4 ist, wurde mit 14 Schiedsrichter und trainierte eine Jugendmannschaft im örtlichen Sportverein. "Unsere" Tageszeitung plante ein Interview zum Thema "Sucht" und fragte in der Klinik an, in der M. sich befand.
Er wurde als möglicher Interviewpartner vorgeschlagen und wollte das auch gerne machen. Er erzählte uns davon. Na gut. Wenn er es möchte.... Das Interview erschien zuerst in der Online-Ausgabe. Tja- und da war sie wieder "meine Übelkeit". Da stand (nach meinem Empfinden) nicht die Wahrheit. z. B. sagte er der Journalistin, dass sein Erspartes ihm die ganze Zeit "heilig" gewesen ist. Es sei für ihn immer klar gewesen, dass er das nicht anrühren wollte. Das sei für seine Zukunft gedacht....
In meinem Kopf war "sein" Erspartes die Summe Geld, die wir ihm zum 18. Geburtstag überlassen haben. Sein jüngerer Bruder hat vom Paten bei der Geburt ein Sparbuch angelegt bekommen, dass bis zum 18. Geburtstag bespart wird. Wir wollten die Brüder gerne gleich gestellt haben und haben ca. 14 Jahre ein "Paten-ersatz-sparen" Konto für ihn angelegt. Das war ja keine Riesensumme (knapp 4.000,-€), aber ich war so stolz und glücklich ihm das für einen guten Start ins Erwachsenenleben mitgeben zu können. Das Geld war natürlich weg. Warum sagte er das nicht? In dem Artikel wurde auch beschrieben, dass er die Verfügung über sein Geld an seinen Vater übergeben hat. Auf die Frage, wie lange er das so geplant habe, antwortete er: "Auf jeden Fall für die Zeit in der Klinik". Als die Printausgabe erschien- war das so schon nicht mehr wahr. Er hatte meinen Mann um Rück-Übertragung gebeten- und ja bitte: auch erhalten. Ich war schon enttäuscht. Warum log er im Interview? In diesem Gespräch ist ja quasi erwartet worden über die Gefahren einer Suchterkrankung aufzuklären- und heraus gekommen ist ein "glatter" Artikel, der von einem jungen Menschen berichtet sein Leben trotz Sucht gut im Griff zu haben. Für dieses "gut im Griff" und "toll" damit umgegangen zu sein, ist er natürlich von allen Seiten gelobt worden. Schlimme Sache, so eine Sucht. Aber mit diesem Ansatz: gut in den Griff gekriegt.
Nach 3 Wochen durften wir ihn in der Klinik besuchen. Es wird den Angehörigen empfohlen, beim ersten Besuch an einem offenen Therapiegespräch teilzunehmen. In unserer Runde trafen 5 Patienten (unterschiedlicher Suchtmittel) mit ihren Angehörigen aufeinander. Unter anderem ein Ehepaar, 72 und 74 Jahre alt, die ihren Sohn besuchten, der Alkoholiker ist. Es war sein 3. oder 4 Aufenthalt in einer Suchtklinik, er hatte im Vorjahr mehrere Wochen im Krankenhaus verbracht wg. Leberzirrose (schreibt man das so?) und lt. Aussage seiner Mutter in den letzten Jahren eine schwere Depression entwickelt. Ihr Sohn würde seit 1,5 Jahren alleine wohnen- aber im selben Ort wie sie. Sie hätten ein morgendliches Ritual, dass er sich jeden Morgen nach dem wach werden bei ihnen meldet. Die Mutter sagte, was für ein furchtbares Gefühl es wäre, wenn er das manchmal nicht täte. Sie würde dann immer glauben, er wäre entweder an seiner Krankheit gestorben- oder hätte sich das Leben genommen. Das war für mich ein Schlüsselmoment. Ich hatte so unglaubliches Mitleid mit diesen Eltern. So viele Jahre. So große Sorgen und Ängste. Unfassbar, dass man das aushält. Ich weiß, ich könnte das nicht. Und ich bin (inzwischen) richtig stolz das sagen zu können: ich will das auch nicht. Das ist nicht mein Lebensentwurf. Mein Leben ist seit August letzten Jahres wirklich durchgerüttelt worden. Ich bin so oft in Traurigkeit und Angst gefangen, dass ich manchmal unter einer Glocke sitze. Und funktioniere. Und für das Leben gar keine Kraft mehr das ist. Es ist ganz ganz schwierig wieder bei sich selbst anzukommen. An alle Eltern: bitte glaubt an euch. Haltet an euren Träumen, Zielen und Plänen fest. Lasst nicht zu, dass die Entscheidungen eures Kindes, die ihre eigene Zukunft so krass verändern, eure gleich mitnehmen. Ich habe seit Mai psychotherapeutische Hilfe. Und ich habe eine tollen Mann.
Am 24.03. wurde M. aus der Klinik entlassen. Wir mussten uns wieder etwas einruckeln, aber es war o.k.. Mein Mann und ich gingen nicht mehr zur Angehörigenberatung. M. ging nach seinem stationären Aufenthalt montags zur einer SHG (nur Spieler) in die nächstgrößere Stadt und dienstags entweder auch in eine SHG (verschiedene Süchte) oder zu einem Einzel zu seiner ambulanten Therapeutin.
Wir wollten schon gerne glauben, dass er es tatsächlich geschafft hat.
Mitte Mai ging er nicht mehr regelmäßig zur SHG und Therapie. (Ehrlicherweise wissen wir ja auch nicht, ob er dort war, wenn er zuhause losgefahren ist). Ende Mai ein Brief von easycredit. Ach du Scheiße. Das kann doch nicht sein?
Mein Mann suchte das Gespräch mit M.. Nein, natürlich nicht. Mach dir keine Sorgen. Es geht mir gut. Ich brauche kein Geld. Ich bin erwachsen und schaffe es alleine. Es gibt nichts, was wir besprechen sollten.
2 Wochen später ein Brief eines Finanzdienstleisters. Vor einigen Monaten habe ich eine Reportage gesehen, die Schuldner begleitet hat, die gehofft hatten, sich mit einem Kredit eines Finanzdienstleisters aus einer finanziellen Notlage befreien zu können. Ein Finanzdienstleister zahlt kein Geld aus. Die Schulden waren nach diesem (Dienstleistungs-)Vertragsabschluss noch höher als vorher. Mich hat das wirklich getroffen, weil ich nicht geglaubt habe, dass man "legal" Menschen derart täuschen darf. Ich kann ehrlich sagen: da wäre ich auch drauf reingefallen. Ich suchte die Reportage in der Mediathek und sagte abends meinem Mann und M., dass ich etwas mit ihnen zusammen anschauen wollte.
Das war am Dienstag letzter Woche. M. schaute die Reportage. Am Ende sagte er, das wäre schon interessant gewesen. Das hätte er so auch nicht gedacht. Ihm würde es aber gut gehen. O-Ton: "ich leide im Moment nicht". Ich schlafe- ich esse- es ist alles gut. Am Donnerstagabend fragte er nach einem Gespräch. Er ist überschuldet und kann Kredite bei 4 Gläubigern nicht zurück zahlen. Sein Bausparvertrag (das war das von ihm gemeinte "heilige" Ersparte für seine Zukunft) ist weg.
Ein Kreditgeber setzt ihn ins Inkasso. Er ist mit dem Spielen schon während der stationären Therapie wieder angefangen.
Ich bin im Ausnahmezustand und gestern und heute krankgeschrieben. Ich schaffe es gerade wirklich nicht zur Arbeit zu gehen.
M. ist gestern zur SHG gefahren. Mein Mann hat ihn gebracht. Das war für beide o. k. so. M. sagte nachher, er wäre sonst vllt. an der ein- oder anderen Ampel falsch abgebogen. M. hatte Angst hinzugehen. Er hatte sich ja auch dort in den ersten Wochen nach seinem stationären Aufenthalt für seinen tollen Umgang und Ausstieg aus der Sucht feiern lassen. Morgen gehen wir zu dritt zu einem Gespräch zu seiner ambulanten Therapeutin. Die ahnt ganz sicher auch, dass er rückfällig wurde, weiß es aber ja noch nicht.
Ich habe unglaublich große Angst mein Kind zu verlieren.