Fast ein Jahr ist vergangen seit meinem letzten Beitrag hier und ich habe neue Erkenntnisse erlangt – leider auf die schmerzhafte Tour. Vor zwei Wochen habe ich Kontrollverlust auf einer ganz neuen Ebene erlebt. Ich habe über einige Tage mehr Verluste als üblich eingefahren und dann einen völlig schwachsinnigen Trade gemacht. Bin dabei nicht nur ein unverhältnismäßig hohes Risiko eingegangen, sondern habe (weil nicht mehr Geld auf dem Konto war) eine große Menge Zertifikate dicht am KO gekauft, der auch zügig erreicht wurde. So habe ich nicht nur 10.000 Euro Verlust gemacht (der bei einer Bewegung in die andere Richtung ein Gewinn gewesen wäre), sondern durch das beim KO verlorene Aufgeld weitere 10.000 Euro der Bank geschenkt. So etwas hätte ich bei klarem Kopf niemals gemacht, mich hat da wirklich eine krasse Energie geritten. In einer Woche haben sich Verluste von 50.000 aufgetürmt – 20.000 davon innerhalb einer halben Stunde.
Das war natürlich ein Schock, den ich erst einmal verdauen musste. Habe seitdem viel über Sucht gelesen, hier und anderswo. Vor dieser katastrophalen Woche hatte ich nicht anerkannt, tatsächlich die Kontrolle verloren zu haben. Denn irgendwie war Kontrolle da, die Verluste waren schmerzhaft aber nie ruinös; ich konnte mein Konto über Wasser halten und musste nie nachschießen. Heute würde ich sagen, dass ich meine Suchtausübung durch gute, längerfristig angelegte Trades finanziert habe. Es blieb sogar ein Gewinn übrig. Zu Beginn meiner „Traderkarriere“ vor sieben Jahren habe ich relativ schnell 50.000 Euro Verlust aufgebaut, was vor allem Unerfahrenheit geschuldet war. Den hatte ich über fünf lange Jahre auf null ausgeglichen. Also hey, ich bin erfolgreich! Bei genauerem Hinsehen sah es so aus: Durch Trades mit längerfristigem Horizont (nicht unbedingt klassische Geldanlage, vor allem haben Short-Trades 2020 und 2022 zum Gewinn beigetragen) habe ich 150.000 Euro Plus gemacht. Was bei einer Kontogröße von durchschnittlich 250.000 Euro (es wuchs über die Jahre durch Ersparnisse an) schon ziemlich gut ist. Mit minimalen Zeitaufwand (wenige Stunden pro Woche) und einer geringen Zahl an Transaktionen.
Doch ich habe eben auch gezockt. Jemand anders hier hat den wiederkehrenden Gedanken schön formuliert: „Ich habe jetzt Lust zu traden - wo könnte ich einsteigen?“ Lust war es in meinem Fall nicht. Sondern die innere Leere, Unerfülltheit, Langeweile, das Defizit von dem Olli so oft schreibt. So entstand der Drang nach dem Nervenkitzel, und ich bin irgendwo eingestiegen - was halt gerade interessant aussah. Kein richtiges Setup, kein klarer Stop Loss – nicht erfolgversprechend, und so ging die Mehrheit der so gestarteten Trades auch schief. In Summe rund 100.000 Euro sind so bei anderen Markteilnehmern gelandet plus die 50.000 vor zwei Wochen, da dass ich jetzt wieder mit meinen 50.000 „Anfängerverlust“ dastehe. Bei enormem Zeitaufwand, diese Trades wurden engmaschig beobachtet. Anders gesagt: Ich habe auf den Chart gestarrt. Eine größere Bewegung in die richtige Richtung löste Glücksgefühle aus, eine in die falsche Schmerz. Gemischt mit dem Gefühl/ Gedanken: „Mensch, wenn ich jetzt auf die andere Richtung gesetzt hätte würde ich die Kohle gewinnen statt sie zu verlieren.“ Auch das hat jemand hier schön beschrieben mit „einen eingeschränkten Emotionenfundus exzessiv zu verspüren."
Und so ohne Verlust (unterm Strich… faktisch gingen so natürlich die Gewinne aus den längerfristigen Trades drauf) habe ich mich da ziemlich gut eingerichtet. Habe gelernt, wie ich an beruflichen Online-Meetings teilnehmen und parallel auf die Kurse schauen kann. Wie ich sie auch beim Abendessen mit der Familie zumindest alle paar Minuten checken kann (und mich kurz ausklinken, wenn Handlungsbedarf besteht). Zuhause, unterwegs – mir immer den Kick geben zu können, oft gefolgt von Schuldgefühlen weil es in der Regel eben nicht so gut lief. Aber manchmal eben auch von Euphorie. Zweifelsfrei Suchtverhalten, das räume ich jetzt komplett ein. Und eben nicht nur „quartalssüchtig“, wie ich mich noch für kurzem klassifiziert hätte. Alle paar Monate (wobei die Abstände immer kürzer wurden) gab es Exzesse, aber die Suchtausübung war konstant da. Außer, etwas anderes hat mich voll ausgelastet. Eine Beziehungskrise, ein neues Projekt in der Arbeit, ein privates Vorhaben für das ich mich begeisterte… Dann kam der Druck gar nicht auf.
Vor einigen Jahren, also mit Mitte 40, wurde bei mir ADHS diagnostiziert. Hauptmerkmal ist Abgleiten in Hypofokus („Konzentrationsstörung“), wenn etwas als langweilig erscheint; und die ständige Suche nach dem Hyperfokus, den ich im Trading immer fand. Dazu dann noch die gestörte Impulskontrolle – und schon entsteht das, was ich oben beschrieben habe. Nach meiner ADHS-Diagnose bekam ich eine Kurzzeit-Therapie von der Kasse bezahlt. Darin spielte Trading nur eine untergeordnete Rolle bzw. habe ich Börse sogar als eines der Dinge eingeordnet, die mich interessieren und wo mich gut konzentrieren kann. Da keine Verluste entstanden, hat die Therapeutin das nicht groß problematisch gesehen – bis auf die Quartalsexzesse (die ich als Verlustbringer ja auch los werden wollte), die jedoch nie zum Schwerpunkt der auf ADHS ausgerichteten Therapie wurden. Im Hinblick auf Alltagsbewältigung hat sie wirklich etwas gebracht. Das Suchtverhalten flog aber komplett unter dem Radar.
Natürlich habe ich mich in den letzten Tagen immer wieder gefragt, worin das Defizit besteht. Sonnenuntergänge und Vogelgezwitscher kann ich genießen, ich gehe gerne in die Berge, Meditiere seit vielen Jahren. Die Attacken kommen plötzlichen wegen Themen, die in anderen Threads auch anklingen: Eine eingefahrene Beziehung. Ein Alltag mit Haus und Kind, der mit ADHS nicht ganz einfach zu bewältigen ist. Vor allem aber kein echtes Interesse an der Arbeit und daraus resultierende der Wunsch, finanziell unabhängig zu sein.
Irgendwann fragst di wieso
quäl i mi da so schrecklich ab
und bin ned längst scho was Gott wo
Und irgendwann bleib i dann dort
lass alles liegn und steh'
geh von daham für immer furt
https://www.youtube.com/watch?v=93nNmegkQos – ironischerweise kommen vorher die Zeilen:
In unserer hektomatik Welt
draht sich alles nur um Macht und Geld
Finanz und Banken steig'n ma drauf
die Rechnung die geht sowieso nie auf
Wie wahr. Dennoch war das (vorgeschobenes?) Ziel meiner Suchtausübung, neben dem direkten Kick daraus. Mich interessieren Eure Meinungen und Einsichten dazu. Und natürlich, was nächste Schritte sein könnten: SHG, eine erneute Therapie mit Schwerpunkt Sucht? Oder einfach Konten sperren und schauen was passiert?
Denn natürlich muss ich mein verbleibendes Kapital schützen. Ich habe eben oben die Größe meiner Konten genannt. Ich bin selbständig, das Geld sind Rücklagen für schlechte Zeiten und fürs Alter.
Deshalb bin ich nun dabei, meine Depots auf Risikoklassen zurückzustufen, mit denen ich keine Termingeschäfte mehr tätigen kann. Das ist für mich ein wirklich schwerer Schritt für mich, weil:
- Ein Teil von mir sich immer noch für einen guten Trader auf der mittelfristigen Ebene mit einem Problem auf der kurzfristigen hält…
- Ich bestimmte Basiswerte nicht mehr handeln können werden, mit denen ich zumeist ganz guten Gewinn gemacht habe.
- Ich die 50.000 Euro in den Verlustverrechnungstöpfen habe und sie auf die Sicht von Jahren nicht mehr ausgleichen können werde
- Einige gehebelte Positionen im Verlust oder nahe null stehen und ich fest davon ausgehe, dass sie in den Gewinn laufen, wenn ich sie laufen lassen würde...
- Sich ein Teil von mir als Loser fühlt. Noch vor wenigen Monaten hatte ich mein Konto ausgeglichen, jetzt höre ich dick im Minus auf. Das knabbert an meinem Ego.
Aber der totale Kontrollverlust vor zwei Wochen beweist schließlich, dass ich den Schritt tun muss.